Raus aus dem Lärm, Gartenkralle statt Google: Unter den Deutschen wächst die Sehnsucht nach einem Leben mit der Natur.
Auf den Feldsteinen zeichnet das Eis futuristische Muster. Knicks glänzen silbrig. Auf den letzten Hagebutten, auf den Schnuten von Ponys und Schweinen klebt der Schnee, als hätte jemand Puderzucker draufgestreut. Durch die weiße Winterlandschaft ziehen sich Vogelspuren wie Steppnähte. Der Wald steht kahl und schweiget.
Landleben, das ist für den Städter eine Flut klarer, eindeutiger Wahrnehmungen, ohne den Lärm und die Künstlichkeiten der Ballungsräume. "Es vermittelt mehr echte Freuden als irgendeine andere Lebensweise", schrieb die Schriftstellerin Katherine Mansfield vor 100 Jahren. Klar, das Landleben hat seine eigenen Zwänge. Aber es ist nicht Teil dieser permanenten virtuellen Party, die wir Informationsgesellschaft nennen.
Gartenkralle statt Google: Genau diese Gegenwelt ist es, die immer mehr Menschen fasziniert, in die sie abtauchen möchten. Und wenn auch nur beim Lesen. Ein Beleg ist der beispiellose Erfolg von "Landlust": Mit einem Auflagenplus von 45 Prozent im Vergleich zum Vorjahresquartal und einer verkauften Auflage von 650 000 ist das Magazin derzeit größter Gewinner auf dem Zeitschriftenmarkt.
Eine kleine Redaktion im "Landwirtschaftsverlag" im Münsterland macht das Heft nach einem einfachen Konzept: Wissenswertes, Reportagen, Selbermachen, eine opulente Optik. Warum ist die Zaubernuss im Winter so schön? Welche alten Hausrezepte helfen, wenn das Kind Grippe hat? Wer macht heute noch schöne Kappen aus Filz? Was kann man aus Schnee alles bauen? Wie kam die Pomeranze vor 300 Jahren nach Europa? Berichte von Bürstenmachern, kommunalen Bierbrauern und Jägern, die mit Frettchen auf die Pirsch gehen.
"Landlust"-Chefredakteurin Ute Frieling-Huchzermeyer beschreibt ihre Leser als "Menschen, die in einer natürlichen, nahe liegenden Lebenswelt den Ausgleich zum Alltag finden und die deshalb zum Beispiel auch die schlichte Schönheit von Handwerklichem schätzen". Viele ließen sich auch zum Selbermachen und Ausprobieren anregen. Sie erwarteten "schöne Lesestunden über Themenwelten, die wir für sie entdecken, lehrreich aufbereitet und emotional gestaltet."
Ihre Leser/innen sind (laut Verlagsinformation) zu 72 Prozent weiblich, gehören mehrheitlich zu Gutverdienerhaushalten und leben in Orten mit weniger als 100 000 Einwohnern. 70 Prozent wohnen im eigenen Haus, 83 Prozent haben einen eigenen Garten. Auf den ersten Blick unterscheiden sie sich damit nicht von der klassischen Kundschaft anderer Hochglanzmagazine für Lifestyle und ländliche Lebensart.
Aber alteingeführte Titel wie "Schöner Wohnen", "Country" oder "WohnenTräume" verzeichnen nach den jüngsten Zahlen ein sattes Minus.Was also ist neu? Der Schwerpunkt vieler Magazine liegt auf kaufbarem Luxus. Sie zeigen die angesagten Antikmöbel, Countrystyle-Stoffe, -Tapeten, das farblich passende Geschirr. Der Leser ist ein gefühlter Landlord, dem nur die richtige Ausstattung fehlt.
Heute gehen die Bedürfnisse aber tiefer, glaubt der Hamburger Trendforscher Peter Wippermann. "Man muss sich das als ganz klare Sehnsuchtsprojektion vorstellen: die Idee, dass man eintauchen kann in den Rhythmus der Jahreszeiten. Dass man Zeit investieren kann in Tätigkeiten, die heute eigentlich sinnlos sind, die aber faszinieren, weil sie einmal zum Broterwerb oder zur Lebensgestaltung gehört haben."
Brot backen will gelernt sein. Man möchte Holz nicht nur an der Wand haben, sondern auch etwas über die Bäume erfahren. Man möchte Bier nicht nur trinken, sondern auch wissen, wer es noch auf alte Art braut.
Gerade in einer Krisensituation haben die Lebenskonzepte von Land und Natur etwas sehr Beruhigendes, sagt Wippermann. "Mein Leben ist etwas,das ich mit meiner Hände Arbeit selbst gestalten kann - Stricken, Holz hacken, sich mit Tieren beschäftigen." Das Bedürfnis danach hätten nicht nur Landbewohner, sondern auch Städter. "Die Lust am Land funktioniert ja nicht, indem die Leute alle mit Frettchen losgehen und jagen. Sondern weil sie die Geschichten darüber faszinierend finden. So wie früher die Erzählungen aus fremden Ländern faszinierten, sind es heute Reisegeschichten, die in die eigene kulturelle Tradition führen und davon so erzählen, als könnte man live dabei sein."
Das Land als Ort, wo noch das Echte stattfindet, wo von Hand gehobelt, gemolken, gemistet und geerntet wird: Diese Idee ist so alt wie die Romantik. Sie verstand sich im 18./19. Jahrhundert als Gegenbewegung zur kalten Vernunft der Aufklärung und als Reaktion auf dieIndustrialisierung. Maschinen veränderten die Arbeit, sie veränderten das Zeitgefühl in der Stadt fühlbar. Auf dem Land, in der Natur dagegen war das Bleibende, Gegebene, Gottgewollte - so sahen es Romantiker wie Hölderlin oder Adalbert Stifter. Die Knochenarbeit der Landbevölkerung wurde häufig weg-idealisiert.
Heute weckt die virtuelle Revolution, die ständige Informationszufuhr und Erreichbarkeit ganz ähnliche Gefühle bei den Menschen. Tag und Nacht verschwimmen, wenn wir rund um die Uhr E-Mails checken, telefonieren, sogar auf dem Handy fernsehen können. Wie schön, dass auf dem Land immer noch die Sonne den Rhythmus der Tiere vorgibt, denken wir. Und idealisieren schon wieder: In Wahrheit wird der Tag in Hühnerfarmen längst von der Beleuchtung vorgegeben.
Viele Menschen haben das dringende Bedürfnis, aus ihren gelenkten Welten auszubrechen. Sie wollen wieder lernen, das richtige Wissen zur richtigen Zeit anzuwenden, ihr Leben buchstäblich mit eigener Hand zu gestalten. Sich den Luxus der Entschleunigung zu leisten. Der "coolen Gleichgültigkeit als Lebensprinzip" steht der vermehrte Wunsch nach Sinnbildung und bleibenden Werten gegenüber, hat die Kölner Agentur "Rheingold" in einer Studie festgestellt.
"Es ist heute ein Luxus, Zeit in Tätigkeiten aus einer vorindustriellen Zeit zu investieren", sagt Wippermann. "Eine Bürste herstellen, eine Zigarre drehen, Kunstschmieden: Was zählt, ist nicht das Ergebnis, sondern der Weg dahin." Es ist die Freude am Bewahren alten Wissens, am selbst Erfahrenen: Diese Treppe hab ich selbst gebaut, den Obstwein hab ich selbst gemacht, diesen Kamin haben wir selbst wieder zum Ziehen gebracht.
Erstaunlicherweise sind es neben jungen Eltern vor allem Menschen zwischen 50 und 65 Jahren, die es aus der Stadt aufs Land zieht, um sich ihren Traum vom entschleunigten Leben zu erfüllen.
Natürlich gibt es auch einen Gegentrend: Nach Studien des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung strömen umgekehrt junge Landbewohner und Alleinerziehende in die Städte - wegen des besseren Job-Angebots, besserer sozialer Netzwerke und abwechslungsreicherer Kultur. An der Landflucht der Jüngeren hat sich seit Wilhelm Busch offenbar wenig verändert. "Komm Helenchen!, sprach der brave / Vormund - Komm, mein liebes Kind! / Komm aufs Land, wo sanfte Schafe / Und die frommen Lämmer sind. / Da ist Onkel, da ist Tante, / Da ist Tugend und Verstand...", dichtete Busch ironisch. Bekanntlich entdeckte die "fromme Helene" auf dem Land aber nicht Tugend und Entschleunigung, sondern vor allem den Vetter Franz. Und zog dann lieber wieder in die turbulente, spannende Stadt.