Hamburg. Selbst innerhalb der Koalition schwindet der Rückhalt für weitere Steuersenkungen. Die Arbeitnehmergruppe in der Unionsfraktion des Bundestags hat die Bundesregierung vor weiteren Steuersenkungen gewarnt. Deren Vorsitzender Peter Weiß sagte der "Frankfurter Rundschau", die Arbeitsagentur werde auch 2011 noch "in erheblichem Umfang zusätzliche Hilfen des Bundes" benötigen.
Für weitere Steuersenkungen gebe es daher "aus heutiger Sicht wenig Spielraum". Auch sehe er keine großen Einsparmöglichkeiten bei der Bundesagentur, wie von der FDP angedacht. Offenbar falle es den Liberalen schwer, "von der Parteitagsrhetorik Abschied zu nehmen und in die harte Realität des Regierungsgeschäfts einzutreten", kritisierte das Mitglied des CDU/CSU-Fraktionsvorstands.
Auch die Opposition warf der Koalition, insbesondere den Liberalen, unseriöse Finanzpolitik vor. Der stellvertretende SPD-Fraktionschef Joachim Poß kritisierte: "Die FDP will bei Familien, Arbeitnehmern und Arbeitslosen sparen, um ihre abenteuerlichen und ungerechten Steuersenkungen von 24 Milliarden Euro durchzusetzen."
Die Vizevorsitzende der Linksfraktion, Gesine Lötzsch, forderte: "Bundeskanzlerin Merkel muss die FDP auf den Boden des Sozialstaates zurückholen." Wer in Anbetracht von 100 Milliarden Euro neuer Schulden Steuern senken und gleichzeitig bei den Familien und der Arbeitsmarktpolitik kürzen will, "legt die Axt an die Wurzel des Sozialstaates". Der parlamentarische Geschäftsführer der Grünen, Volker Beck, betonte: "Schon das Verschuldungsbeschleunigungsgesetz zum Jahresende war des Guten zu viel."
Zeitgleich zum Inkrafttreten der ersten Steuersenkungen der schwarz-gelben Regierung am 1. Januar haben zudem Kirche, Gewerkschafter und Wirtschaftsexperten die damit verbundenen Entlastungen für Bürger und Unternehmen scharf kritisiert. Die Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Margot Käßmann, sagte, sie halte die Beschlüsse der Bundesregierung für "nicht nachhaltig und nicht verantwortbar". Eine dadurch mit verursachte weitere Erhöhung der Staatsverschuldung, "die sowieso schon exorbitant ist", halte sie nicht für vertretbar.
Das seit Freitag geltende Wachstumsbeschleunigungsgesetz entlastet Familien, Erben und Unternehmen um 8,5 Milliarden Euro. Ein wesentlicher Bestandteil ist die Erhöhung des Kinderfreibetrags und des Kindergelds um 20 Euro.
Die Landesbischöfin von Hannover appellierte gleichzeitig an die Bürger, die Abgaben an den Staat positiver zu bewerten. "Bei uns wird Steuerzahlen immer so extrem negativ gesehen. Statt zu sehen, dass sie öffentliche Schulen, Krankenhäuser oder Straßen ermöglichen."
Der Wirtschaftsweise Wolfgang Franz kritisierte im "Tagesspiegel": "Wie die Koalition Steuersenkungen in diesem Umfang finanzieren will, bleibt ihr Geheimnis." Der Präsident des Industrieverbandes BDI, Hans-Peter Keitel, sagte, grundsätzlich sei 2011 eine weitere Konsolidierung der Haushalte von Bund, Ländern und Gemeinden nur möglich, wenn die Wirtschaft wieder Tritt fasse.
Ver.di-Chef Frank Bsirske rechnete vor, dass Deutschland für die 24 Milliarden Entlastungen in 2011 vier Prozent Wachstum bräuchte. "Dies ist offenkundig illusorisch."
Dem "steuerpolitischen Chaos" in der schwarz-gelben Koalition liege die Annahme zugrunde, dass sich die Politik selbst finanzieren könne. Dies sei aber eine "Illusion", was Versuche in den USA oder in Deutschland unter Rot-Grün belegten, so Bsirske.