Tagung beschäftigt sich in Berlin mit Computer-Sucht. Drogenbeauftragte Bätzing fordert Altersbeschränkung für den Verkauf von Computerspielen.
Berlin/Hamburg. Alles begann mit drei Buchstaben: „LOG“. Am 29. Oktober 1969 wurden sie zwischen zwei Universitäts-Computern in den USA übermittelt. Die Geburtsstunde des Internets. Vor 40 Jahre wurde damit ein Prozess angestoßen, der dazu beitrug, dass 2008 erstmals mehr Jugendliche im Alter von 12 bis 19 Jahren angaben, einen Computer (71 Prozent) im Zimmer zu haben als einen Fernseher (61 Prozent). Die meisten Jugendlichen nutzen das Internet kontrolliert. Doch das Internet kann sie auch krank machen – wenn soziale Netzwerke, Twitter, Ebay und Internetspiele zur Sucht werden.
Wer abseits von Beruf oder Schule mehr als 30 Stunden pro Woche im Internet verbringt, gilt als süchtig. Nicht nur Emails und Chatten können abhängig machen, auch Pornografie im Internet und das Herunterladen von Filmen und Musik sind entscheidende Faktoren. Doch bisher fehlen repräsentative bundesweite Erhebungen über die genaue Anzahl der Betroffenen. Laut Schätzungen sind drei Prozent aller Internetnutzer in Deutschland abhängig. Dr. Kay Uwe Petersen von der Drogenambulanz des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE) präsentierte am Freitag auf einer internationalen Konferenz der Drogenbeauftragten zu diesem Thema in Berlin die erste bundesweite Umfrage zu Beratungs- und Behandlungsangeboten für Internet- und Computersüchtige.
Petersen befragte gemeinsam mit Professor Rainer Thomasius und anderen Kollegen seines Zentrums 138 Einrichtungen in Deutschland, die Internet- und Computersüchtige betreuen. Ein typischer Klient ist ein junger Mann mit depressiven und ängstlichen Symptomen. Einige der Computersüchtigen sind sozial isoliert. Bei einem geringen Prozentsatz kommt es auch zu Drogenmissbrauch und Schlafstörungen.
Etwa 70 Prozent der betroffenen Männer sind zwischen 15 und 24 Jahre alt. Bei den Frauen tritt die Abhängigkeit erst etwas später auf. 76 Prozent der Süchtigen sind über 20 Jahre alt. Neun von zehn der Patienten sind Männer. Frauen machen bei den Beratungsstellen also nur einen Bruchteil aus. Vor allem in den Suchtambulanzen gibt es laut der Studie des UKE bereits gute Therapieerfolge. Vor allem bei stationärer Behandlung ist die Abbruchquote der Patienten gering.
Die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Sabine Bätzing (SPD) forderte, einen Ausbau der Therapiemöglichkeiten für Online-Süchtige. Der Bedarf wachse, das Problem der Online-Sucht werde immer größer, sagte Bätzing am Rande der Tagung. Jungen würden zehnmal so häufig abhängig von Computerspielen wie Mädchen. Abhängige Jungen hätten schlechtere Noten in den Schulfächern Deutsch, Mathematik, Sport und Geschichte und schwänzten Unterricht fast doppelt soviel wie gleichaltrige Jungen. Als Grund gäben 64 Prozent einer Studie des Kriminologischen Forschungsinstitutes Niedersachsen zufolge an, sie spielten am Computer statt zur Schule zu gehen.
Drei Prozent der 15-jährigen Jungen sind bereits süchtig, weitere 4,7 Prozent gefährdet. Dies geht aus einer repräsentativen Befragung von 15.000 Jugendlichen zu ihrem Computer-Verhalten hervor, die das Kriminologische Forschungsinstitut gemacht hat. 16 Prozent der 15-jährigen Jungen spielen mehr als viereinhalb Stunden pro Tag.
Bätzing forderte eine Altersbeschränkung für den Verkauf von Computerspielen. Insbesondere sei „absolut nicht nachvollziehbar“, dass das Spiel „World of Warcraft“, das bei jedem fünften Spieler zur Abhängigkeit führe, bereits von Zwölfjährigen gekauft werden könne. Sie empfehle, das Spiel ab 18 Jahren freizugeben.
Nach Ansicht des Mainzer Psychologen Kai Müller können auch die weit verbreiteten Online-Rollenspiele süchtig machen. Die Spieler entwerfen dabei Charaktere, sogenannte Avatare, und verabreden sich im Internet mit anderen, um in einer Fantasiewelt gegen virtuelle Feinde zu kämpfen. Das bekannteste Rollenspiel ist „World of Warcraft“, mehr als 10 Millionen Menschen spielen es weltweit. „Die Mitstreiter sind den süchtigen Spielern egal, für sie steht das Spiel im Vordergrund“, sagte Müller. Durchschnittlich spielten sie sechs Stunden am Tag.
Die reine Stundenanzahl sei nicht das einzige Anzeichen für Online-Sucht, berichtet Müller. Auch die Vernachlässigung anderer Lebensbereiche wie Freunde und Schule sowie Entzugserscheinungen seien Indikatoren. „Für die Süchtigen konzentriert sich das Leben nur noch auf den PC und alles andere wird unattraktiv“, erzählt Müller. Der Experte arbeitet bei der deutschlandweit einmaligen Ambulanz für Spielsucht an der Universität Mainz, wo bereits etwa 180 Computersüchtige aus dem Rhein-Main-Gebiet therapiert wurden.
Die süchtigen Online- und Rollenspieler lebten oftmals sozial zurückgezogen, spielten teils tagelang am Stück und mieden andere Menschen. „Sie wollen Kontakte, die man kontrollieren kann“, erklärt der Psychologe. Seinem Rollenspiel-Partner müsse man nicht direkt in die Augen schauen, „da ist die Mattscheibe dazwischen“. Außerdem könne man die Kritik anderer Menschen per Knopfdruck ignorieren. Gleichzeitig erlebten die isolierten Spieler in der virtuellen Welt Erfolgsmomente, die sie sonst nicht hätten.
Andere Formen der Computerspielsucht sind nach Müllers Angaben die Online-Kaufsucht oder die Online-Sexsucht. Neuerdings gebe es jedoch auch einen Trend zur Recherchesucht. Die Betroffenen geben einen Begriff in eine Suchmaske ein und verlieren sich dann im Internet. „Sie wollen Informationen zum Buchdruck im 19. Jahrhundert und landen beim Paarungsverhalten neukaledonischer Delfine“, sagt Müller. Dabei vergessen sie, wie auch die Rollenspiel-Süchtigen, die Zeit. Auch soziale Netzwerke wie Facebook, Wer-kennt-wen oder StudiVZ könnten süchtig machen. Hier allerdings überwiege der Anteil der Frauen, sagt Müller.