Wer länger als vier Stunden vor dem Computerbildschirm sitzt und seine Freunde nicht mehr trifft, ist stark gefährdet.
Hamburg. Internet und Computerspiele können abhängig machen. Drei Prozent der Jugendlichen sind betroffen: Sie sind sozial isoliert, schwänzen die Schule und können im Extremfall sogar gewalttätig werden. Eltern müssen die virtuelle Welt der Kinder erleben, um ihnen zu helfen. Ein Gespräch mit Prof. Dr. Rainer Thomasius, Ärztlicher Leiter der Drogenambulanz am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf.
abendblatt.de : Herr Professor Thomasius, wie merken Eltern, dass ihre Kinder internetsüchtig sind?
Prof. Dr. Rainer Thomasius: Ganz offensichtlich ist das, wenn das Kind viel länger vor dem Computer sitzt als die übliche Grenze von zwei bis vier Stunden an Wochentagen und sechs Stunden an Wochenenden. Jugendliche geben ihre Hobbys auf, sie vernachlässigen ihre Freunde. Das kann bis zur kompletten Isolierung führen. Einige unserer Patienten haben über Monate die Schule geschwänzt. Wenn Eltern erst dann eingreifen, haben sich Verhaltens- und Nutzungsmuster bereits eingeschliffen. Manche Kinder werden bei Begrenzungsversuchen durch die Eltern aggressiv und drohen mit Gewalt.
abendblatt.de : Warum greifen Eltern so spät ein?
Thomasius: Manche Eltern sind in Sachen Internet einfach höchst verunsichert. Sie kennen die virtuelle Welt nicht, in denen sich ihre Kinder aufhalten. Beim Fernsehen klappt das viel besser, da sagen die Eltern ganz klar: Das darfst du sehen, und das nicht. Viele Mütter und Väter wissen aber auch nicht, wie viel Zeit vor dem Computer für das Kind angemessen ist.
abendblatt.de: Warum werden Jugendliche computersüchtig?
Thomasius: Die jungen Leute sind über das Internet ständig erreichbar. Sie chatten mit zahlreichen anderen Nutzern. In den Computerspielen geht es dann oft um Siege und darum, Punkte zu sammeln und Fertigkeiten zu erlangen. Das hat einen hohen sozialen Reiz. Und es ist verlockend, seinen Charakter im Rollenspiel weiterzuentwickeln und im Spiel zu bleiben.
abendblatt.de: Das virtuelle Rollenspiel „World of Warcraft“ zählt zu den am häufigsten missbrauchten Spielen.
Thomasius: Dort tun sich die Jugendlichen in Gilden zusammen. Es geht um Macht, um Ansehen und Sozialprestige – und dies erfahren die jungen Menschen im Rollenspiel oft leichter als in der realen Welt. Ihre virtuelle Identität ist scheinbar gefestigter als ihr Auftreten im Alltag.
abendblatt.de: Dennoch kommt es auch stark auf die jeweilige Person an, wie stark sie der Computer abhängig macht.
Thomasius : Richtig. Wer in seiner Jugend unsicher und scheu ist, für den können Computerspiele besonders attraktiv sein. Soziale Bindungen sind in Online-Rollenspielen für die Jugendlichen leichter kontrollierbar und weniger angstauslösend. Bindungsängste schlagen oft ins Gegenteil um: Sie fühlen sich mächtig. Computerspiele können die Unsicherheit in der realen Welt jedoch verstärken.
abendblatt.de : Nach Amokläufen wie in Winnenden wird viel über das Gewaltpotential von Computerspielen wie „Counterstrike“ diskutiert. Werden Kinder zu Killern, wenn sie diese Spiele spielen?
Thomasius : Nein. Computerspiele können zwar bei Jugendlichen mit einem bereits vorhandenen Gewaltpotential das Fass zum überlaufen bringen. Aber genauso kann diese Gewalt durch anhaltenden Stress in der Schule oder in der Familie ausgelöst werden.
abendblatt.de: Wie sollte ich mein Kind zum Internet erziehen?
Thomasius: Die Eltern müssen sich für die virtuellen Räume ihrer Kinder interessieren. Wir brauchen Elternschulen. Die Medienkompetenz der Eltern muss deutlich erhöht werden. Dies wird auch ein Ergebnis der Konferenz in Berlin sein. Wenn der PC-Gebrauch über normale Nutzungszeiten hinausgeht, kann eine wichtige Maßnahme sein, dass Eltern den Computer aus dem Kinderzimmer nehmen. In Fluren oder Wohnzimmern haben sie bessere Kontrolle über die Nutzungszeiten des Computers.
abendblatt.de: Was passiert während der Therapie in Ihrer Drogenambulanz?
Thomasius: Wir untersuchen erst gründlich die Lebenswelten der Kinder und interessieren uns für die Sicht der Eltern. Während der Therapie geht es vor allem darum, dass die Kinder wieder lernen, soziale Beziehungen und Freundschaften einzugehen – abseits der virtuellen Welt. Die Sinneskanäle der Kinder und neue Verhaltensmuster werden stimuliert. Das fängt beim Hören und Tasten an. Wichtig ist aber auch der Sport.
abendblatt.de : Wie weit ist die Forschung zum Thema Computersucht in Deutschland?
Thomasius: Wir stehen ganz am Anfang. Es gibt keine Behandlungsstudien und keine genauen Zahlen über das Ausmaß von Computer- und Internetsucht. Für die Beratungsstellen in Deutschland gibt es kein einheitliches Therapiekonzept. Alles ist self-made. Die Chinesen sind uns beispielsweise in der Diagnostik weit voraus. Allerdings behandeln sie ihre Patienten mit Elektroschocks. Das kann natürlich kein Vorbild sein. Wir müssen psychotherapeutische Verfahren entwickeln, die dem Kindes- und Jugendalter gerecht werden - und die die Patienten in ihrem persönlichen und sozialen Konflikten unmittelbar ansprechen.