Beispiel Altmark in Sachsen-Anhalt: “Die was draufhatten, sind weg.“ Aber wer zahlt künftig die Abwassernetze? Wer löscht, wenn's brennt? Und wer pflegt die Alten in den Heimen?
Magdeburg. Der Putz zwischen den schwarzen Fensterhöhlen ist brüchig. Rankgewächse arbeiten sich an den verrosteten Geländern von Terrassen und Balkonen empor. Aus dem Innern der Häuser suchen sich junge Buchen ihren Weg zum Licht. Fensterglas knirscht unter den Füßen. Menschen sind nicht zu sehen.
Dass hier einmal Kinder auf den Straßen tobten, Erwachsene nach Feierabend beim Bier auf den Bänken schwatzten und Besucher zur Erholung kamen, ist kaum vorstellbar. Es war so. Frank Wulff, Mitarbeiter des Bauamts der Gemeinde Arendsee, hat es erlebt. Und er erlebt nun die Zeitenwende rund um die 2800-Einwohner-Gemeinde.
"Das Landleben stirbt", sagt Wulff. Einige Orte der Altmark, einem von der Natur verwöhnten Landstrich rund 70 Kilometer nördlich von Magdeburg, werde es schon bald nicht mehr geben: "Da stehen dann nur noch Schilder - Wüstungen nennt man das."
Auch eine Studie des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung (BI) prophezeit den ländlichen Regionen Deutschlands einen erheblichen Bevölkerungsverlust. In manchen Gegenden würden die Menschen sogar komplett verschwinden. Die frei gewordenen Flächen böten dann Platz für heute dort ausgestorbene Tiere: "Nach dem Menschen kommt der Wolf", so eine Kapitelüberschrift in der Studie.
Ursache für die Entleerung ganzer Landstriche ist zum einen der allgemeine Bevölkerungsschwund. Das Statistische Bundesamt rechnet damit, dass die Zahl der in Deutschland lebenden Menschen bis Mitte dieses Jahrhunderts von derzeit rund 82 Millionen auf nur noch 70 Millionen schrumpfen wird. Dazu kommt, dass die Bevölkerung gerade der ländlichen Regionen massiv abwandert. Nach wie vor liegen die davon am schwersten betroffenen Gebiete vor allem in den neuen Bundesländern.
Aus Arendsee, erzählt Gemeindemitarbeiter Frank Wulff, seien vor allem die Jungen und gut Ausgebildeten verschwunden. "Die was draufhatten, sind weg - da kommt auch nichts mehr nach", sagt er. Und wo kein Fachpersonal sei, da kämen auch keine Unternehmen, und wo keine Unternehmen seien, da gebe es auch keine Arbeit, und wo es keine Arbeit gebe, da könne auch niemand leben.
Elvira Freyse aus Bismark (ca. 3200 Einwohner) kennt das nur zu gut. Keine ihrer drei Töchter ist in der Region geblieben. Arbeit fanden sie in Berlin, Hannover und Magdeburg. Ebenso sei es bei den Kindern von Freunden und Bekannten: "Von rund 100 sind 90 weg." Weil die Jüngeren fehlen, verfalle der Ort mehr und mehr. "Das Einzige, was wächst, sind die Altenheime."
Wie die Töchter von Freyse machen sich im Osten allgemein vor allem gut ausgebildete junge Frauen auf den Weg zu besseren beruflichen Möglichkeiten. Vielen Regionen fehlen mittlerweile potenzielle Mütter. In Sachsen-Anhalt etwa lebten 1991 noch 460 000 Frauen zwischen 18 und 40 Jahren, heute sind es 343 000. Und während Anfang der 90er jährlich rund 32 000 Kinder zur Welt kamen, waren es 2005 nur noch 17 000.
Zurück bleiben die Alten und Arbeitslosen sowie die gering Qualifizierten. Eduard Stapel sitzt im Stadtrat von Bismark und ist zugleich Kreistagsabgeordneter im nahen Stendal: "Wir haben etwa 1000 Jugendliche im Kreis, mit denen nichts mehr anzufangen ist." Schon für eine Lehre gingen die meisten fort und kämen dann nicht wieder. Daran änderten auch die Gewerbegebiete nichts, die fast jedes Dorf hier inzwischen eingerichtet hat, um Unternehmen anzulocken. "Wir nennen diese Gebiete beleuchtete Äcker", sagt Stapel.
Doch die Abwanderung ist längst kein rein ostdeutsches Phänomen mehr. Beispiel Ruhrgebiet. Allein die Städte Bochum und Hagen schrumpften im Jahr 2006 zusammen um über 3000 Einwohner. Das BI prognostiziert dem Raum Duisburg bis zum Jahr 2020 einen Bevölkerungsverlust von mehr als zehn Prozent.
Reiner Klingholz, Leiter des BI, führt die Abwanderung in Ost wie West auf eine verfehlte Subventionspolitik zurück. Diese konserviere überkommene Strukturen und verhindere die Ansiedlung wettbewerbsfähiger Wirtschaftszweige. So habe beispielsweise die Zonenrandförderung im Westen der ehemaligen Grenzregion marode Branchen viel zu lange gestützt. Nach der Wende kam für sie das Aus. Die Jüngeren und Leistungsfähigen verlassen auch hier seit Jahren die Region. In den Harzer Städten Goslar und Osterode sind - ähnlich wie in den ostdeutschen Schwundregionen - nur noch rund 35 Prozent der Bewohner jünger als 35 Jahre.
Wanderungsgewinner sind in Ost wie West die prosperierenden Städte und deren nahes Umland. So werden etwa die Metropolregionen München und Stuttgart auch in Zukunft bevölkerungsmäßig zulegen. Im Osten heißen solche "Leuchttürme" Jena, Dresden und Erfurt.
Experten erwarten, dass Wachstums- und Schrumpfregionen künftig immer weniger gleichbedeutend sind mit alten und neuen Bundesländern. Die entsprechende Karte wird einem Flickenteppich ähneln mit vorwiegend städtischen Wirtschaftszentren als Wachstumszonen und einem sich bevölkerungsmäßig immer stärker entleerenden ländlichen Raum.
In manchen Regionen nimmt der Leerstand von Gebäuden schon jetzt beängstigende Formen an. In Sachsen-Anhalt sind 230 000 Wohnungen unbewohnt, ein Sechstel des gesamten Bestandes. "Wir haben tolle Fassaden gebaut, aber dahinter lebt niemand mehr", so Stapel.
Auch die Infrastruktur wird sich zunehmend ausdünnen. Über 2000 Schulen haben im Osten seit der Wende schon dicht gemacht. Egal ob Verkehr, Wasser oder Energie: Mit abnehmender Bevölkerung steigen die Pro-Kopf-Kosten für die Pflege der Netze. Immer weniger Einwohner werden eine zunehmend überdimensionierte Infrastruktur bezahlen müssen.
"Das Leben auf dem Land wird teurer", ist sich Frank Wulff in Arendsee sicher. Ein gutes Beispiel dafür sei die ärztliche Versorgung. "Wenn bei uns ein Hausarzt aufhört, bleibt die Praxis geschlossen - da kommt keiner nach." Wohin die Entwicklung dann geht, könne man schon heute an den Fachärzten sehen. Um sie zu konsultieren, sei oft eine Fahrt nach Stendal (gut 50 Kilometer) nötig. Stapel ergänzt: "Schwierig wird es auch mit den Notdiensten. Wir haben zwar teures Gerät für Feuerwehr und Rettungsdienste angeschafft, aber wenn es brennt, ist niemand mehr da, um das zu bedienen."
Dass die Abwanderung gestoppt wird, hält Wulff für unwahrscheinlich: "Die obere Landesplanungsbehörde hat uns zu verstehen gegeben: Ballungszentren werden bevorzugt." Laut Klingholz ist es auch weder sinnvoll noch möglich, den Trend zu drehen: "Das wäre ein Kampf gegen Windmühlen. Wir müssen die Fläche leer räumen, um die Zentren zu erhalten - dort werden die Leute gebraucht", glaubt er.
Bei allen Schwierigkeiten: Besonders für die Landwirtschaft gibt es auch Chancen der Entwicklung. Der Rückzug aus der Fläche schafft Platz für Energiepflanzen und die Produktion von Biokraftstoffen. "Bleibt dann die gesamte Wertschöpfungskette vom Anbau bis zum fertigen Sprit vor Ort, könnte es sogar wieder eine Zuwanderung geben", sagt Klingholz. Durch die Renaturierung ganzer Landstriche könnte zudem etwas für den Artenschutz getan werden. Raubtiere wie der Luchs könnten dann tatsächlich neue Lebensräume in ganz Deutschland gewinnen. Beim Wolf allerdings wird das wohl noch lange dauern. Zwar sind in der Lausitz schon heute wieder zwei Rudel heimisch. Wildbiologen glauben jedoch nicht an eine zügige Ausbreitung nach Westen. Dafür sei das Risiko, vom Auto überfahren oder vom Jäger erschossen zu werden, viel zu hoch.