Es ist der 18. Februar, heute vor einem Jahr, kurz vor der Bürgerschaftswahl. Im Restaurant Parlament bittet der SPD-Chef Journalisten und Parteifreunde zum Hintergrundgespräch. Die Sätze, die dann fallen und an die Öffentlichkeit gelangen, kosten die Hamburger SPD viele Stimmen und den Parteivorsitzenden seine Karriere.
Hamburg. Sie tranken Rotwein und Weißwein, sie aßen Fisch und Rind an jenem Montagabend im "Parlament", dem Kellerrestaurant des Hamburger Rathauses. Sie saßen im Raum "Rose" unter einem prächtigen Kronleuchter, parlierten über dies und das, über die anstehenden Wahlen in Hamburg und die frisch vergangenen in Hessen, und auch über die Frage, ob Andrea Ypsilanti angesichts der ungeklärten Machtverhältnisse mit den Linken paktieren solle, um Ministerpräsidentin zu werden. Und wie sie da saßen in heimeliger Runde, fielen Sätze, die anfangs harmlos schienen und erst später hohe Wellen schlugen. Und es fielen Sätze, die für die einen sofort alarmierend wirkten und für andere ohne große Bedeutung waren.
Fest steht: Der Abend des 18. Februar 2008 war einer, an den die Beteiligten ein Jahr danach extrem unterschiedliche Erinnerungen haben und über den es noch immer keine klare Deutungshoheit gibt. Aber fest steht auch: Dieser Abend löste in der SPD ein Erdbeben aus. Eines mit weitreichenden Folgen für die politische Landschaft in Deutschland: Der SPD-Chef ist heute ein anderer, auch der SPD-Kanzlerkandidat heißt anders als damals noch angenommen, in Hessen regiert nun doch wieder Roland Koch, in Hamburg Ole von Beust mit der GAL, und in Rheinland-Pfalz sitzt ein auf Bundesebene gescheiterter Kurt Beck. Dass es so gekommen ist, hat vor allem mit dem 18. Februar 2008 zu tun. Mit dem Abend, an dem Kurt Beck zu reden begann.
Eigentlich sollte es gar kein spektakulärer Termin werden, jene Zusammenkunft, die sich "Journalistisches Hintergrundgespräch" nannte. Es waren nur noch sechs Tage bis zur Hamburg-Wahl. Der SPD-Vorsitzende Kurt Beck und der Hamburger Spitzenkandidat der Sozialdemokraten, Michael Naumann, waren vorher zusammen aufgetreten. Und sie waren guter Dinge. Die Umfragen prognostizierten weder eine Mehrheit für Schwarz-Gelb noch für Schwarz-Grün. Die CDU kam auf 39 Prozent, die SPD auf 35 Prozent, die Grünen lagen bei 9 Prozent, die Linke lag ebenfalls bei 9 Prozent. Die FDP stand bei 5 Prozent. Eine Große Koalition oder Dreierbündnisse galten zu dem Zeitpunkt als realistisch. Michael Naumann konnte sich an jenem Abend im Rathauskeller berechtigte Hoffnungen machen, wenige Wochen später zwei Stockwerke höher als Erster Bürgermeister einzuziehen. Selbst wenn er am Ende keine Koalition würde bilden können: Michael Naumann würde als ein Gewinner aus der Wahl gehen. Als der ehemalige Kulturstaatsminister im März 2007 die Spitzenkandidatur für die Sozialdemokraten übernommen hatte, war die SPD in Umfragen bereits weit unter 30 Prozent gerutscht. Seine Partei würde sich diesmal ordentlich verbessern, das wusste er.
Ab 21 Uhr saß man dann beieinander: Michael Naumann mit seiner Frau, Naumanns Sprecher Günter Beling, Parteichef Beck, Günter Grass mit seiner Frau, SPD-Sprecher Lars Kühn und fünf Journalisten. Kurt Beck achtete peinlich darauf, wer neben wem an dem voluminösen runden Tisch Platz nehmen sollte, erinnert sich ein Teilnehmer. Beck ließ sich von zwei Journalisten flankieren. Die unausgesprochene Übereinkunft des nun folgenden "Hintergrundgesprächs" steckte im Wort "Hintergrund". Alles, was an so einem Abend besprochen wird, ist im Sinne des Wortes gedacht für den Hintergrund. Man spricht nicht darüber, schreibt nicht darüber, alles bleibt geheim. In der Regel.
Michael Naumann war müde. Der Wahlkampf - der erste seines Lebens - steckte dem 66 Jahre alten beurlaubten Herausgeber der "Zeit" in den Knochen. "Ich habe in elf Monaten 700 Termine gemacht und bin mit meinem Golf 11 000 Kilometer durch Hamburg gefahren", sagt er sich zurückblickend. Doch Naumann erinnert sich auch, dass Kurt Beck noch müder aussah als er selbst. "Er wirkte sehr angestrengt - wie alle Politiker, die einem mörderischen Stundenplan folgen müssen. Eine Woche später war er dann physisch erschöpft und lange sehr krank." Eine Woche später war Kurt Beck auch politisch ziemlich am Ende. Man nannte ihn einen Wortbrecher. Und das lag vor allem an dem gemütlichen Abend im Hamburger "Parlament". Was war geschehen? Dies zu rekapitulieren fällt schwer. Denn niemand schrieb damals mit, niemand ließ ein Tonband laufen - wie es sich eben für ein Hintergrundgespräch gehört.
Was Kurt Beck exakt im Wortlaut sagte, ist nicht überliefert. Michael Naumann erinnert sich zumindest an folgenden Satz, der auf ihn wie eine "Banalität" wirkte - "dabei hatte er Sprengwirkung", so Naumann: "Auch im Hessischen Landtag wird der Ministerpräsident geheim gewählt", habe Beck damals gesagt. "Alle haben weiter gegessen. Niemand hat nachgefragt", erinnert sich Naumann. Und doch glaubt er, dass es dieser Satz war, den ein anwesender Journalist der "Neuen Presse" aus Hannover zum Anlass nahm, einen Tag danach Becks Kurswechsel öffentlich zu machen. Andrea Ypsilanti wolle offenbar mit den Stimmen der Linken zur Ministerpräsidentin von Hessen gewählt werden, schrieb er. Parteikreise hätten der Zeitung bestätigt, dass Kurt Beck das auch so sehe.
Andere Beteiligte erinnern sich, Kurt Beck habe an dem Abend noch viel bedeutendere Sätze von sich gegeben. Er habe explizit davon gesprochen, dass Ypsilanti sich von den Linken wählen lassen könne. "Dann versuchen wir es einmal", soll der SPD-Chef gesagt haben. Der Kreis der Journalisten war erstaunt. Es gab Nachfragen, bei denen Becks Haltung immer klarer wurde. Sein kategorisches Nein zu Kooperationen mit der Linkspartei in den westlichen Bundesländern galt urplötzlich nicht mehr. Dieter Wonka aus dem Berliner Büro der "Leipziger Volkszeitung" erinnert sich: "Ich war entgeistert. Ich fragte mich anfangs, ob das sein Ernst sei. Ich habe mehrfach nachgefragt, ob ich das alles richtig verstanden habe." Er hatte. Offenbar wagte der SPD-Chef den Dammbruch bewusst in dieser Runde. "Ich bin mir bis heute nicht sicher, ob Beck offensiv damit spekuliert hat, dass das Gesagte an die Öffentlichkeit gelangt. Vielleicht wollte er nur die Reaktion der anwesenden Journalisten testen", sagt Wonka. Naivität sei es jedenfalls nicht gewesen, derart offen über die Tolerierung der Linken zu sprechen. "Dafür hat Beck zu oft in solchen Runden gesessen."
Der Abend endete gegen Mitternacht. Die Tage danach wurden für Michael Naumann zum Albtraum. Erst musste er registrieren, wie Kurt Beck nun in aller Öffentlichkeit sagte, die SPD werde "mit der Linkspartei nicht aktiv kooperieren". Doch dabei blieb es nicht. Immer häufiger wurde über den Abend in Hamburg geschrieben und auch darüber, dass der Hamburger SPD-Spitzenkandidat bei Becks eindeutigem Strategiewechsel ja anwesend gewesen sei, aber nicht darauf reagiert habe. Dieter Wonka sieht es noch immer so: "Michael Naumann hat genau gewusst, worum es geht. Er hat sich aber an keiner Stelle aktiv, kritisierend oder lobend in das Gespräch eingeschaltet, obwohl er ganz genau mitbekommen hat, was da abläuft."
Naumanns Schweigen galt als stille Zustimmung - und damit auch als Signal für Hamburg. Der Kurswechsel wurde nun auch ihm unterstellt. Kurz vor der Wahl schwor er sogar beim Leben seiner Kinder, dass er mit den Linken kein Bündnis eingehen würde. Aber es half nichts. "Wir verloren daraufhin in der letzten Woche vor der Wahl drei Prozent der Wähler - laut Umfragen im Auftrag des NDR", sagt er. Es kam noch schlimmer. "Becks Aussage hatte zwei Effekte", so Naumann. "Erstens: Die CDU-Wähler wurden in der letzten Woche vor der Wahl mobilisiert. Zweitens: In den letzten Wahlkampftagen kamen Briefwähler auf mich zu, die schon ihre Stimme abgegeben hatten und sagten: 'Wenn ich gewusst hätte, dass Sie mit den Linken regieren wollen, hätte ich Sie nicht gewählt.' Das war bitter."
Michael Naumann hatte einen konsequenten Wahlkampf gegen die Linken geführt und wollte mit ihnen weder zusammenarbeiten noch von ihnen toleriert werden. Am Ende hatte trotz allem seine Glaubwürdigkeit gelitten. "Ich war stark verärgert", sagt er zurückblickend. Bei der anschließenden Wahl reichte es für Schwarz-Grün. Die SPD holte mit 34 Prozent dennoch ein achtbares Ergebnis. Seiner Enttäuschung machte Naumann erst nach der verlorenen Wahl Luft - in einem Brief: "Deine Bemerkungen", schrieb er an Beck, haben "nicht nur meine eigene Glaubwürdigkeit, sondern auch die der Hamburger SPD aufs Spiel gesetzt." Für alle Hamburger Genossen sei klar, dass sie zu einem Stimmenverlust von zwei bis drei Prozentpunkten geführt hätten. Der gesamte Vorgang "hat uns womöglich auch den Wahlsieg gekostet", so Naumann, der auch seine persönliche Kränkung offenbarte: "Was die SPD über fast anderthalb Jahrhunderte als älteste sozialdemokratische Partei der Welt zusammengehalten hat, waren in letzter Instanz die schöneren Schwestern von Parteidisziplin namens Solidarität und Loyalität. Was mich persönlich betrifft, hast Du diese beiden Urtugenden auf die Probe gestellt." Und weiter: "Statt mit jener Geduld weiter zu arbeiten, die unser - und doch auch Dein! - Hamburger Programm charakterisiert, hast Du aus riskantem Kalkül und vor allem zum falschen Zeitpunkt das Tor für die Linkspartei in Westdeutschland zum Einzug in die scheinbare Respektabilität geöffnet."
Schließlich kam doch alles anders. In Hessen konnten vier Genossen es nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren, eine Tolerierung der Linkspartei zuzulassen. Die Neuwahlen im Januar dieses Jahres verhalfen Roland Koch zurück an die Macht. Auf Bundesebene galt Beck seit dem Hamburger Abend als ernsthaftes Problem für die Partei. Becks langjähriger Weggefährte und ehemaliger Koalitionspartner in Rheinland-Pfalz, Rainer Brüderle von der FDP, sagt heute zu dem Kurswechsel vor der Hamburg-Wahl: "Ein erfahrener Politiker wie Kurt Beck weiß sicher am besten, dass das ein Fehler war." Brüderle, stellvertretender Fraktionschef im Bundestag, hat aber auch Mitleid mit Beck: "Einige seiner sogenannten Parteifreunde haben die Situation auf unschöne Weise ausgenutzt und seinen Rücktritt als Parteivorsitzender mit provoziert."
Ein paar Monate später war das Problem Beck tatsächlich gelöst. Am Ende des Jahres hieß der Parteichef Franz Müntefering. Kanzlerkandidat wurde Vizekanzler Frank-Walter Steinmeier. Beck ist nur noch Ministerpräsident - und bundespolitisch kaum noch präsent. Andrea Ypsilanti hat ihre Führungsämter in Hessen niedergelegt und ist nur noch einfache Oppositionsabgeordnete. Michael Naumann ist wieder Herausgeber der "Zeit". Sein Mandat in der Bürgerschaft wollte er nicht behalten. Der damalige SPD-Sprecher Lars Kühn, der auch am Tisch saß, ist inzwischen abgelöst. Über den Abend in Hamburg wollte er sich nicht äußern. Er sagt: "Die Sache ist für mich abgehakt." Auch der Journalist der "Neuen Presse", der als Erster vom Kurswechsel Becks berichtete, wollte nicht über den inzwischen legendären Februarabend reden.
Der ehemalige SPD-Chef tut dies heute nur verklausuliert. Als Kurt Beck unlängst der "Welt am Sonntag" sagte, dass die Bundespolitik massiv von Intrigen dominiert werde und dass "das Hauptspiel heute fast ausschließlich hinter den Kulissen" stattfinde, wirkten seine Worte wie die Aufarbeitung eines Traumas.
Nach den Hamburg-Wahlen gab es nur noch einmal ein Vier-Augen-Gespräch zwischen Beck und Michael Naumann. "Wir haben uns höflich ausgesprochen", sagt Naumann. "Seitdem habe ich ihn nicht wieder getroffen."