Der Schriftsteller Ralph Giordano hat den Widerstand gegen Intoleranz und Neonazis zum Thema seines Lebens gemacht. Seine Rede ist der Höhepunkt der Demonstration “Hamburg bekennt Farbe“ im und am Hamburger Rathaus. Das Abendblatt dokumentiert seinen mit eigenem Erlebten untermauerten Appell für den Kampf gegen rechts
Während sich an diesem Sonnabend Zehntausende Bürger auf dem Rathausmarkt versammeln, um gegen Gewalt von Neonazis zu demonstrieren, spricht im Kaisersaal des Rathauses ein Mann, der die Intoleranz der Nazis am eigenen Leib erlebte - der Schriftsteller Ralph Giordano. Lesen Sie hier den zweiten Teil seiner Rede.
Dieses Deutschland hat mich gar nicht gefragt, was ich möchte oder nicht. Ich bin angenagelt an dieses Land, es hält mich fest ohne jede Aussicht auf Änderung, es hat mir meine Unlösbarkeit eingerichtet. Wo immer ich auch hinginge, sie wäre mir überall nachgekommen. Doch nun droht durch Schwäche und Gleichgültigkeit ein Bollwerk angetastet zu werden, hinter dem ich all die Jahre und Jahrzehnte vertrauensvoll lebe, erst im geteilten, dann im wiedervereinigten Deutschland.
Ich spreche von etwas Kostbarem und deshalb auch Gefährdetem, von einem Elixier wie die Luft zum Atmen, von der einzigen Gesellschaftsform, in der ich mich nach meinen Vergleichsmöglichkeiten sicher fühlen kann: Ich spreche von der demokratischen Republik, dem demokratischen Verfassungsstaat! Sie haben viele Feinde, nicht nur rechte. Da ist ein gewaltbereites linksautonomes Spektrum von großer Zerstörungswut. Dazu religiös und radikal motivierte Fundamentalisten, tief integrationsfeindliche Extremisten, die erst jüngst bürgerkriegsähnliche Zustände heraufbeschworen haben.
Und von denen sich unmissverständlich zu distanzieren die muslimische Minderheit in Deutschland ein elementares Interesse hat. Es ist die Ehre der Nation, Fremde, Ausländer, Gäste vor der Pest des Rassismus zu schützen. Ebenso notwendig aber ist es, bei der Verteidigung der Verfassungswirklichkeit gegen alle vorzugehen, die gegen die demokratische Republik agieren, egal, ob Christen, Muslime oder Atheisten. Dabei hat das offene Wort ebenso selbstverständlich zu sein wie die kritische Methode, diese große Errungenschaft der europäischen Geistesgeschichte.
Und das mit dem Kompass Grundgesetz und im Schulterschluss mit allen, die seine Hüter sein wollen - Christen, Muslime oder Atheisten. Ich bin als Buchautor, Publizist und Filmemacher nie zensiert worden - und ich will, dass das so bleibt. Ich habe diese Rede, wie alle zuvor, in Angstfreiheit verfasst, ohne Schere im Kopf - und ich will, dass das so bleibt. Ich will mich weiter geborgen fühlen hinter dem Schutzschild einer Demokratie, von der ich die Erfahrung habe, dass in ihr keine Konzentrationslager errichtet werden - und ich will, dass das so bleibt. Aber nichts von dem, was meinem Leben Wert verleiht, würde mir bleiben, wenn die an die Macht kämen, gegen die Hamburg heute Farbe bekennt.
Was ich sagen will, ist dieses, ein Gelöbnis in der Hoffnung auf Ihre Bundesgenossenschaft: Wer die Demokratie attackiert, sie angeht, beschädigt oder gar aufheben will, der kriegt es mit mir zu tun, dem gehe ich ans Leder, der hat mich am Hals. Das ist meine Charta, das ist mein politisches Testament.
"Hamburg bekennt Farbe" - da wird mir ganz warm ums Herz ... Zumal die heutige Großveranstaltung für mich unter einem besonderen, einem persönlichen Stern steht: der Beteiligung des Bertini-Preises an ihr - so benannt nach meiner Hamburger Familien- und Verfolgtensaga "Die Bertinis". Es ist die Geschichte eines Lebenstraums, der sich erfüllt hat.
Dazu, in gebotener Kürze: Ich war 18, als ich 1942, im neunten Jahr der Naziherrschaft, die Idee hatte, das eigene, tödlich bedrohte Leben zur Vorlage für ein Buch zu machen; 59, als es nach 40 Jahren Arbeit 1982 erschien; 65, als es 1988 verfilmt wurde; 75 bei der ersten Verleihung des Preises 1998 - und bin nun 89 bei dem Versuch, die riesige Strecke des erfüllten Lebenstraums mit ein paar dürren Zahlen zu codieren. Der Preis, dessen Ideenvater der emeritierte Hamburger Lehrer Michael Magunna ist, geht seit 14 Jahren jeweils am 27. Januar, dem Tag der Befreiung von Auschwitz, an Hamburger Schülerinnen und Schüler, die im Vorjahr eine humane Tat begangen haben.
Inzwischen sind es über 1000, mit zahlreichen Aktionen gegen Rechtsextreme und ihre Sympathisanten. Bei dieser Gelegenheit noch einmal Dank an alle, die seit fast anderthalb Jahrzehnten auf das Verantwortungsvollste die Kärrnerarbeit dieses wunderbaren Preises verrichten, großen Dank. Der Bertini-Preis - das ist die Krönung eines Lebens, das sich bis auf elf Jahre dem Hundertsten genähert hat. Kein Wunder, dass ich ihn jedes Mal wieder in einem Zustand ungläubigen Erstaunens erlebe: Kann denn wahr sein, was da geschieht?
Und nun verrate ich Ihnen ein Ritual. Ich hatte von früh auf die Angewohnheit, in entrückten Situationen meinen linken Handrücken zwischen Daumen und Zeigefinger der rechten Hand zu zwirbeln, um mich durch den sanften Schmerz zu vergewissern, dass ich nicht träumte. Genau das passiert mir jedes Mal wieder bei der Verleihung im Ernst-Deutsch-Theater. Als Ehrenvorsitzender des Vereins halte ich immer das Schlusswort.
Und während ich dann da vorn stehe, den Schülerinnen und Schülern danke und sie streng auffordere, über den Ernst des Lebens den Spaß an ihm nicht zu vergessen - während ich also da stehe und zu ihnen rede, kommen mir unvermeidlich die Bilder hoch, wie ich damals in ihrem Alter als Underdog durch die Straßen dieser Stadt geschlichen bin und mich vor der Verzweiflung nur dadurch rettete, dass ich über die Leiden meiner Familie schreiben wollte.
Die Distanz zwischen der festlichen Verleihung im Heute und der Apokalypse von damals ist für mich nicht mehr messbar. Also zwirbele ich jedes Mal wieder den linken Handrücken zwischen rechtem Daumen und Zeigefinger, um mich im Diesseits wiederzufinden.
Und da unsere Stunde hier an dieser ehrwürdigen Stätte wieder das große Staunen in mir heraufbeschwört, wiederhole ich die Prozedur, heimlich und in der Hoffnung, dass Sie davon nichts merken. "Hamburg bekennt Farbe", und die Ereignisse bestätigen, wie notwendig das Zeichen ist.
Ein Geständnis: Es ist richtig, mich schrecken alle Angriffe auf Demokratie und Grundgesetz, woher auch immer sie kommen. Aber wenn sie aus meiner Vaterstadt kommen, dann fühle ich mich noch schmerzhafter angetastet als sonst. Da will etwas nicht passen zu meinem Hamburg-Bild, da marschiert etwas Böses auf, reckt sich etwas, das nicht, was nie wieder triumphieren und schon gar keine Zukunft haben darf.
Lassen Sie uns also die wehrhafte Demokratie üben, lassen Sie uns Teil von ihr sein. Lassen Sie uns überall dort, wo sich die Stimmen des Ausländer- und Fremdenhasses, des Antisemitismus und der Feindschaft gegen Sinti und Roma, aber auch die Kakophonien religiös und radikal motivierter Fundamentalisten und Extremisten misstönend vernehmen lassen - lassen Sie uns überall dort unser Veto, unseren energischen Widerspruch einlegen.
Sagen wir dem gewöhnlichen, dem schwelenden Nazismus, der bekennenden Unbelehrbarkeit, den Lügnern von der "Auschwitz-Lüge", sagen wir ihnen überall dort den Kampf an, wo wir auf sie stoßen. Stehen wir auf gegen Politiker und Juristen, die die nötige Strenge gegen die Menschenfeinde aller Couleur vermissen lassen.
Und fühlen wir uns nicht als Einzelne, Isolierte, sondern als Teil einer großen Bundesgenossenschaft. Aber stelle sich auch niemand seiner guten Vorsätze wegen über andere, sondern horche jedermann wachsam in sich hinein, ob unsere Ansprüche gegenüber anderen gedeckt sind durch die Maßstäbe, die wir an uns selber legen.
Nehme sich also keiner von seiner eigenen kritischen Schärfe aus. Geloben wir, in diesem Kampf auch weiterhin unsere Herzen offenzuhalten wie unsere Fähigkeit zu lachen und zu trauern, zu weinen und uns zu freuen, vor allem aber unseren Humor nicht zu verlieren! Denn erst, wenn wir diese Fähigkeiten verloren hätten, erst dann wären wir besiegt, ein Triumph, den wir der zeitgenössischen Variante des Nationalsozialismus nicht gönnen.
Es lebe das nazifreie Deutschland! Es lebe die Bundesrepublik! Es lebe die Demokratie! Es lebe - unser geliebtes Hamburg!