Der Gipfel brachte keinen Durchbruch. Die Kanzlerin kämpft mit Abweichlern in den eigenen Reihen und muss Ungemach von der FDP fürchten.
Berlin. Die Demonstranten vor dem Kanzleramt haben gestern Morgen keinen Zweifel daran gelassen, welche Botschaft sie der Bundeskanzlerin mit auf ihren Weg nach Brüssel geben wollten: "Finanzhaie an die Kette", lautete das Motto der Aktion des Kampagnennetzwerks Campact, das nicht nur mit einem überdimensionierten Angela-Merkel-Double vorstellig wurde, sondern gleich vier seiner Mitglieder in flauschige Hai-Kostüme gesteckt hatte, um auf sein Ansinnen aufmerksam zu machen. Das Bündnis fordert die Einführung der Finanzmarkttransaktionssteuer, die es selbst am liebsten "Spekulantensteuer" nennt.
Vor allem Deutschland und Frankreich würden die Abgabe am liebsten in allen 27 EU-Mitgliedstaaten einführen, um den Finanzsektor an den Kosten der Krise zu beteiligen. Doch es gibt Gegner: Allen voran lehnen die Briten die Steuer ab. Sie ist auf breiter Ebene damit quasi chancenlos.
Das wusste Angela Merkel, als sie sich gestern Nachmittag auf den Weg in die belgische Hauptstadt gemacht hat. Die Kanzlerin und CDU-Chefin war hier am Abend zu einem informellen Essen mit den Staats- und Regierungschefs der 27 EU-Länder verabredet. "Ohne Tabus" wolle man hier Ideen auf den Tisch legen, wie Europa am besten aus der Schuldenkrise kommen kann, hieß es im Vorfeld. Doch erst beim nächsten regulären EU-Gipfel Ende Juni sollen konkrete Beschlüsse gefasst werden - und bis dahin gilt es, die Konfliktlinien auszuloten.
Vor allem Merkel bewegt sich in keinem einfachen Umfeld. Zu Hause in Berlin sind die Haifisch-Demonstranten dabei noch das kleinste Übel der Kanzlerin. Ebenfalls gestern stellten sich zudem zehn Abgeordnete ihrer Regierungskoalition aus Union und FDP vor, um als "Allianz gegen den ESM" gegen den neuen dauerhaften Euro-Rettungsschirm zu demonstrieren, der strauchelnden EU-Staaten helfen soll, wenn sie am Markt kein Geld mehr bekommen. Er soll den bisherigen befristeten Rettungsschirm EFSF ablösen und am 1. Juli in Kraft treten.
Ursprünglich hatten Union und FDP geplant, den ESM bereits Ende Mai gemeinsam mit dem europäischen Fiskalpakt durch das Parlament zu bringen. Angesichts von Widerständen bei SPD und Grünen ist dieser Zeitplan nicht mehr einzuhalten - die Koalition ist auf die Stimmen der Opposition angewiesen.
Die Widerständler in den eigenen Reihen sind zwar nichts Neues, ihre neu gegründete Allianz allerdings schon. Zu den zehn Abgeordneten zählen auch Hamburgs FDP-Chefin Sylvia Canel und der für seine Haltung bereits bekannte liberale Euro-Rebell Frank Schäffler. Aufseiten der CDU ist der Parlamentarier Klaus-Peter Willsch einer der Wortführer. Jedoch auch der Bund der Steuerzahler und die Verbände der jungen Unternehmer und der Familienunternehmer sind mit an Bord. "Wir machen uns sehr große Sorgen", sagte Canel und beklagte eine "kollektive Verantwortungslosigkeit". "Der temporäre Rettungsschirm EFSF muss wie geplant 2013 auslaufen. Die dauerhafte Nachfolgeeinrichtung ESM darf es nicht geben", so das übergeordnete Ziel.
Ihr Parteifreund Schäffler erklärte sogar Merkels Euro-Politik für gescheitert. "Es ist nichts besser geworden", beklagte er. Trotz aller Bemühungen sei die Krise nicht abgeebbt, sondern habe sich zugespitzt. Weitere Länder wie Spanien, Portugal und Italien hätten sich infiziert. "Die Krise wird auch in den kommenden Wochen und Monaten an Dynamik gewinnen", ist Schäffler überzeugt. Der Widerstand gegen den Kurs der Kanzlerin werde innerhalb der Koalition allmählich größer, sagte Schäffler. Die Gruppe der Gegner wachse zwar nicht schnell genug, "aber steter Tropfen höhlt den Stein".
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Ist das auch die Strategie des neuen französischen Präsidenten François Hollande? Immer wieder macht er sich für Euro-Bonds stark, die die Kanzlerin immer wieder strikt ablehnt. Mit solchen gemeinsamen Staatsanleihen der 17 Euro-Länder könnten schwächelnde Mitglieder billiger an frisches Geld kommen und die eingesparten Mittel in wachstumsfördernde Investitionen fließen lassen. Für Berlin steht eigentlich fest, dass dies einen falschen Anreiz darstellt. Man fürchtet, dass der Spardruck sinken und für Deutschland die Zinsen steigen würden.
Doch auch hier scheint Merkel ein Stück Sicherheit zu verlieren. FDP-Fraktionschef Rainer Brüderle machte gestern erstmals deutlich, er könne sich sehr wohl zu einem späteren Zeitpunkt Euro-Bonds vorstellen. Wenn Fiskalpakt und Schuldenbremse eingeführt seien und ein Gleichklang in der europäischen Wirtschaftspolitik erreicht sei, könne man über solche gemeinsamen europäischen Anleihen nachdenken, sagte er im Deutschlandfunk. EU-Kommissar Günther Oettinger (CDU) warnte zudem davor, Euro-Bonds definitiv auszuschließen. "Euro-Bonds sind eine Frage des Timings. Ich rate allen Beteiligten, sich nicht grundsätzlich dagegen zu positionieren", sagte er dem "Handelsblatt".
Im Wahlkampf hatte Hollande versprochen, sich für Euro-Bonds einzusetzen. Vor dem Gipfel nannte er es inakzeptabel, dass einige EU-Länder für ihre Schulden mehr als sechs Prozent Zinsen zahlen müssten, während andere bei Sätzen nahe null seien. Auch Krisenländern müsse man attraktive Finanzierungsmöglichkeiten bieten.
Auch das ist eine kritische Spitze Richtung Berlin: Wie gestern bekannt wurde, muss der deutsche Staat erstmals in der Geschichte für eine Anleihe keine Zinsen zahlen. Die Versteigerung der Papiere mit zweijähriger Laufzeit und null Prozent Zinsen hat rund 4,6 Milliarden Euro in die Staatskassen gespült. Der Grund: die Euro-Krise. Deutschland gilt mittlerweile als einer der letzten verlässlichen Kreditnehmer im Währungsraum.