Der Finanzminister muss sich laut Schätzung um die Finanzen bis 2016 keine Sorgen machen. Doch die Euro-Krise bleibt unberechenbar.
Berlin. Wer keine Geschenke machen will, sollte nicht zu euphorisch reagieren, wenn man auf einmal selbst großzügig beschenkt wird. Vielleicht hatte Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) diese Gedanken im Hinterkopf, als er in maximaler emotionaler Zurückhaltung das zu erwartende Rekord-Steuerplus bis 2016 verkündete. Die Steigerung bezeichnete er als nicht so spektakulär wie in den vergangenen Jahren und sprach von einem richtigen Mix aus Konsolidierung und Wachstumsimpulsen. Mit den Einnahmen werde die Neuverschuldung schneller zurückgeführt als nach der Schuldenbremse gefordert. Und ganz wichtig: Natürlich gebe es bis auf die beschlossenen Steuerentlastungen keine haushaltspolitischen Spielräume.
Deutschland bleibt damit weiter die europäische Wachstumslokomotive. Die Auftragsbücher der Industrie sind voll, der Internationale Währungsfonds stuft die Aussichten der deutschen Wirtschaft positiv ein. Doch über dem momentanen Stabilitätskurs der Deutschen schwebt die Unsicherheit in der Euro-Zone. Die Ausmaße eines möglichen Austritts Griechenlands aus der Gemeinschaftswährung hätten schwer abschätzbare Folgen. Als Konsequenz ist ausgemacht, dass Steuerzahler und Staatskassen erheblich belastet würden. Schneller als erwartet könnten also die günstigen Zahlen der Steuerschätzer Geschichte sein. Auch die Positivmeldungen wie die, dass Deutschland 2011 sein Staatsdefizit auf ein Prozent der Wirtschaftsleistung drücken konnte, könnten schon bald von Horrormeldungen überholt werden.
Die Bundesregierung wollte sich gestern jedoch ihren Optimismus nicht nehmen lassen: Der FDP-Vorsitzende Philipp Rösler forderte bereits für 2014 einen Bundeshaushalt ohne neue Schulden. "Die erwarteten Steuermehreinnahmen bestätigen: Wir könnten es schaffen, schon 2014 einen ausgeglichenen Haushalt zu erreichen. Diese Chance müssen wir nutzen", sagte er. Laut der im Grundgesetz verankerten Schuldenbremse muss der Bund erstmals 2016 einen Haushalt ohne nennenswerte Neuverschuldung schaffen.
Die zusätzlichen 29,4 Milliarden Euro an Steuern sind auch den gestiegenen Bruttolöhnen zuzuschreiben. Von den Lohnsteigerungen bleibt den Arbeitnehmern allerdings nicht mehr allzu viel übrig, wie der Steuerzahlerbund in mehreren dem Abendblatt vorliegenden Modellrechnungen aufgeführt hat. Nach Angaben der Organisation wird der Staat allein in diesem Jahr 8,5 Milliarden Euro zusätzlich über heimliche Steuererhöhungen einnehmen. Bei einem durchschnittlichen Lohn- und Einkommensanstieg von drei Prozent könne dieser Betrag für 2012 erwartet werden, teilte der Steuerzahlerbund dem Abendblatt mit. 2011 habe der Fiskus durch diese heimlichen Steuererhöhungen rund 4,5 Milliarden Euro zusätzlich eingenommen, hieß es weiter. Der Steuerzahlerbund versteht unter heimlichen Steuererhöhungen die kalte Progression sowie die Steuererhöhungen aufgrund der allgemeinen Einkommensentwicklung.
Wie der Steuerzahlerbund berechnet hat, muss ein Ehepaar mit einem gemeinsamen zu versteuernden Einkommen von 40 000 Euro im Jahr 2010 nach Lohnsteigerungen von rund 6,4 Prozent (3,3 Prozent 2011 und 3,1 Prozent 2012) im Jahr 2012 insgesamt 696 Euro mehr Einkommenssteuer inklusive Solidaritätsbeitrag zahlen. Damit führt eine Lohnsteigerung um 6,4 Prozent zu einer Erhöhung der Steuerlast um 12,88 Prozent, so die Berechnung. Gut die Hälfte davon (350 Euro) resultiert aus heimlichen Steuererhöhungen. Der Staat kassiert demnach überproportional bei jeder Lohnsteigerung ab - und er wird dies auch weiter tun, selbst wenn der Bundesrat heute entgegen allen Erwartungen den schwarz-gelben Steuerentlastungsplänen zustimmen sollte. Union und FDP wollen von 2013 an die Bürger um insgesamt 6,1 Milliarden Euro im Jahr entlasten und so die Auswirkungen der kalten Progression eindämmen. Der vorliegende Gesetzentwurf sehe für das Jahr 2013 zudem nur eine Bereinigung von knapp zwei Milliarden Euro vor und bleibe damit weit hinter der notwendigen Korrektur für eine gerechte Besteuerung zurück, hieß es beim Steuerzahlerbund. Die derzeitige Ungerechtigkeit im Einkommenssteuertarif bestehe darin, dass Steuerzahler bei Lohn- und Einkommenssteigerungen, die oftmals nur die Inflation ausgleichen, automatisch mehr Steuern zahlen müssten.
Reiner Holznagel, Geschäftsführer und Vizepräsident beim Steuerzahlerbund, forderte die Bundesländer auf, sich in der Länderkammer endlich zu bewegen. "Wer den Gesetzentwurf blockiert, soll auch ehrlich sagen, dass er Steuererhöhungen will", sagte Holznagel dem Abendblatt. Er rechnete vor, dass ein Inflationsausgleich von beispielsweise 2,5 Prozent zu einer Steuermehrbelastung von mehr als 4,5 Prozent führe. Holznagel betonte: "Durch die kalte Progression kassiert der Staat bei Lohn- und Einkommensverbesserungen überproportional ab."
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) setzt bereits auf eine Verständigung mit der Opposition außerhalb des Bundesrates. "Über die kalte Progression und die verfassungsrechtlich gebotene Erhöhung des steuerlichen Grundfreibetrags wird im Vermittlungsausschuss entschieden", betonte Merkel in den "Ruhr Nachrichten".
Auch Rösler appellierte noch einmal an den Bundesrat, sich zu bewegen. "Die Steuerschätzung belegt erneut, dass eine Korrektur der kalten Progression dringend nötig ist", sagte er. Der Staat dürfe sich nicht über den progressiven Einkommenssteuertarif an den "Mehrverdiensten" der Bürger bereichern. Der Gesetzentwurf zum Abbau der kalten Progression sei "wirtschaftspolitisch vernünftig" und entlaste kleine und mittlere Einkommen. Während Schleswig-Holstein und Niedersachsen den Entlastungen zustimmen wollen, haben Hamburg und Mecklenburg-Vorpommern ihr Nein signalisiert.