Der Wähler an der Weser mag keinen Wechsel: Die SPD kann nach der Bürgerschaftswahl mit den Grünen weiterregieren. Schon seit dem Kriegsende stellt sie den Regierungschef. Die CDU säuft ab. Die FDP fliegt zum dritten Mal in diesem Jahr aus einem Landesparlament.
Berlin. Bremen steht vor einer Neuauflage der rot-grünen Koalition. SPD und Grüne sind nach der ersten Hochrechnung des Landeswahlleiters klare Sieger in Bremen. Die SPD erzielte 38,8 Prozent, die Grünen 22. CDU, FDP und Linke mussten Verluste hinnehmen. Die CDU erreichte noch 20,1 Prozent, die Linke liegt bei 6,4 und die FDP ist mit 2,5 Prozent nicht mehr im Parlament. Mit einem Sitz in der neuen Bürgerschaft sind die Bürger in Wut über ihr Ergebnis in Bremerhaven vertreten. Das Ergebnis basierte auf 27 Prozent der Stimmen aus 70 repräsentativen Wahlbezirken.
Erstmals durften in einem Land auch 16- und 17-Jährige an einer Landtagswahl teilnehmen. Sie machten fast 10 000 der insgesamt rund 500 000 Wahlberechtigten aus.
Die Grünen profitierten damit auch in Bremen von ihrem Auftrieb durch die Atomdebatten infolge der Nuklearkatastrophe von Fukushima. Nachdem sie in Baden-Württemberg die SPD hinter sich gelassen hatten und dort erstmals einen Ministerpräsidenten stellen, hängten sie in Bremen mit der CDU zum zweiten Mal eine Volkspartei ab. Die FDP konnte von ihrer personellen Erneuerung auf Bundesebene nicht profitieren. Sie sitzt jetzt nur noch in 13 von 16 Landesparlamenten.
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Die SPD verteidigte ihre Hochburg Bremen, wo sie seit Kriegsende ununterbrochen den Regierungschef stellt. Der bei den Bürgern beliebte Böhrnsen sagte, seine Partei habe „großen Grund zur Freude“. Beide Koalitionspartner hätten zugelegt. „Einen größeren Vertrauensbeweis kann man sich nicht vorstellen.“ Der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel sprach von einem „Riesenerfolg“. Insgesamt sei seiner Partei „eine schöne Serie in den letzten 12 bis 15 Monaten“ gelungen, sagte er in der ARD.
Die Grünen-Vorsitzende Claudia Roth wertete es als besonders erfreulich sei, dass die Grünen erstmals vor der CDU liegen. Grünen-Bundestagsfraktionschef Jürgen Trittin sagte im ZDF, seine Partei sei dafür „belohnt“ worden, dass sie 2007 das schwierige Finanzressort in dem mit fast 18 Milliarden Euro verschuldeten Land übernahm. Die Finanzsenatorin und Spitzenkandidatin Linnert meinte, Rot-Grün sei „auf ganz schöne Art und Weise bestätigt“ worden.
CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe sprach von einer „schmerzhaften Niederlage“ und einer „herben Enttäuschung“. Er betonte in der ARD: „Es ist schwer, Volkspartei in einer Großstadt zu sein.“ CDU- Spitzenkandidatin Mohr-Lüllmann räumte ein, dass ihre Partei ihr Wahlziel nicht erreicht habe. „Es gab leider keine Wechselstimmung.“
FDP-Generalsekretär Christian Lindner sah in der Niederlage der Liberalen noch keine Aussage über ihr neues Personaltableau. „Wir haben gerade erst angefangen mit der Neuaufstellung“, sagte er in der ARD. „Das braucht selbstverständlich Zeit, bis das wirkt.“ Die Linken-Vorsitzende Gesine Lötzsch sagte in der ARD, der Wiedereinzug in die Bürgerschaft nach parteiinternen Querelen sei ein Erfolg. Gerade in Bremen werde eine „soziale Opposition“ gebraucht.
Nach einer Analyse der Forschungsgruppe Wahlen verdankt die SPD ihren Sieg einem hohen Parteiansehen, ihrer Sachkompetenz und vor allem Bürgermeister Böhrnsen mit seinen hervorragenden Imagewerten. Auf der Gegenseite stehe die wenig bekannte CDU-Spitzenkandidatin exemplarisch für die Schwäche ihrer Partei.
Bei der Wahl vor vier Jahren hatte die SPD 36,7 Prozent (33 Sitze) erzielt. Die CDU kam auf 25,6 Prozent (23 Sitze). Die Grünen erreichten 16,5 Prozent (14 Sitze) und die Linke 8,4 Prozent (7 Sitze). Die FDP erzielte 6,0 Prozent (5 Sitze). Die rechtsextreme DVU zog mit einem Abgeordneten in die Bürgerschaft ein. Ein Mandat musste die SPD später infolge einer Nachwahl an die „Bürger in Wut“(BIW) abgeben. Durch Aus- und Übertritte sah die Sitzverteilung zuletzt so aus: SPD (35), CDU (22), Grüne (13), Linke (5), FDP (4), BIW (1), Parteilose (3).
Zur Wahl traten diesmal 16 Parteien und Wählervereinigungen an. 369 Kandidaten bewarben sich um die 83 Sitze in der Bürgerschaft. Das Wahlrecht sieht vor, dass eine Partei schon dann ins Landesparlament kommt, wenn sie nur in einer der beiden Städte Bremen und Bremerhaven die Fünf-Prozent-Hürde überspringt. Wegen des komplexen Wahlrechts soll das vorläufige amtliche Endergebnis erst zur Wochenmitte vorliegen. Erstmals konnten die Bürger fünf Stimmen vergeben und diese beliebig auf Parteien und Bewerber verteilen.
Bei der Wahl in Bremen dürfte die SPD, die dort seit Kriegsende den Regierungschef stellt, den Umfragen zufolge erneut Sieger werden. Die Grünen sehen die Demoskopen mit mehr als 20 Prozent Stimmanteil auf Platz zwei, die CDU könnte nur noch drittstärkste Kraft werden. Die Linken könnten auf Platz vier landen, die FDP könnte den Einzug in den Landtag nach den Umfragen verpassen.
SPD-Spitzenkandidat Böhrnsen sagte bei seiner Stimmabgabe, er erwarte für die Sozialdemokraten ein „ordentliches Ergebnis“. Er will die Koalition mit den Grünen fortsetzen. Die Spitzenkandidatin der Grünen, Karoline Linnert, rechnet mit mindestens 20 Prozent Stimmanteil für ihre Partei. „Wenn es dann mehr wird, freu’ ich mich auch“, sagte sie. CDU-Spitzenkandidatin Rita Mohr-Lüllmann zeigte sich am Morgen bei ihrer Stimmabgabe trotz schlechter Umfragewerte für die Union zuversichtlich. „Noch habe ich nicht aufgegeben. Mich interessieren die echten Stimmen“, betonte sie.
Die Wahllokale haben bis 18.00 Uhr geöffnet. Das Auszählen der Stimmen wird Tage in Anspruch nehmen. Ein vorläufiges amtliches Endergebnis wird wegen Änderungen im Wahlrecht nicht vor Mittwoch nächster Woche erwartet. Bei dem neuen Wahlsystem können die Stimmberechtigten erstmals fünf Kreuzchen für Kandidaten und Parteien machen. Es gibt keinen Wahlzettel mehr, sondern ein ganzes DIN-A4-Heft, in dem neben den Parteien alle Bewerber auf einen Abgeordnetensitz aufgeführt sind. Dieses System macht die Auszählung kompliziert.
Im Wahlkampf in Bremen blieben heftige Attacken in den vergangenen Wochen aus. Die Finanzpolitik in dem mit rund 18 Milliarden Euro verschuldeten Bundesland war in der politischen Auseinandersetzung der einzige große Zankapfel.
Der Abendblatt-Kommentar
„Dass die SPD in Bremen die Bürgerschaftswahl gewinnt, gilt seit Kriegsende quasi als Naturgesetz. Im Bundesrat wird sich nichts ändern. Das Ergebnis von gestern ist ziemlich genau vorhergesagt worden. Und dennoch ist der Wahlausgang an der Weser alles andere als langweilig. Denn im kleinsten Bundesland hat sich ein Trend verfestigt, der durch den kontinuierlichen Niedergang der im Bund regierenden Parteien CDU/CSU und FDP, einer ratlos dahindümpelnden SPD sowie durch den unaufhaltsam erscheinenden Aufstieg der Grünen gekennzeichnet ist. Das hat zum einen natürlich mit der Nuklearkatastrophe von Fukushima zu tun - vor allem aber mit dem Umgang der Parteien damit. Der wiederum sagt viel über Glaubwürdigkeit und Prinzipientreue aus, Kriterien, die für Wähler entscheidend sind. Während die Grünen sich in ihrer Überzeugung bestätigt sehen können und die SPD unter Sigmar Gabriel noch immer mit Sinn- und Richtungssuche beschäftigt ist, vollführte die Union eine Kernkraft-Volte, die ihr weder Freund noch Feind so recht abnehmen wollen.
Die FDP sprach in Gestalt des damaligen Wirtschaftsministers Brüderle ohnehin nur von Taktik - und zahlt jetzt die Rechnung dafür. Ebenso für uneingelöste Steuerversprechen und sonstige inhaltliche Schnitzer wie personelle Querelen. Der versuchte Neuanfang mit Philipp Rösler an der Spitze ist noch zu jung, als dass er positive Auswirkungen haben könnte. Die FDP bewegt sich dauerhaft am Rande des Existenzminimums. Im Gegenzug sind die Grünen auf dem Weg zur zweiten Kraft auch bundesweit. Nicht mehr die Liberalen sind ihre natürlichen Konkurrenten, sondern SPD und Union. Das Themenspektrum der Partei ist längst nicht mehr auf Anti-Atombewegung, Frieden und Ökologie beschränkt, sondern präsentiert auch Vorschläge zu wirtschaftlichen und sozialen Fragen, hält Angebote für beinahe jede Wählerschicht bereit. Ein Charakteristikum, das die klassischen Volksparteien Union und SPD bislang für sich als Alleinstellungsmerkmal beanspruchten, aber kaum noch verteidigen können. Der Höhenflug der Grünen mag - wie der jeder anderen Partei vor ihnen auch - wieder gebremst werden, wenn in der praktischen Politik unbequeme Kompromisse geschlossen werden müssen. Dass die Partei in ihrer Bedeutung aber wieder so weit schrumpft, dass sie sich an der FDP messen lassen müsste, scheint im Wahljahr 2011 geradezu ausgeschlossen.“