Die Bundeswehr hat Flüge in den Nordirak aufgenommen. Aber was kommt danach? Es ist an der Zeit, sich Gedanken auch über ein unabhängiges Kurdistan zu machen.
Berlin. Nach langem Zaudern hat die Bundesregierung mit dem Transport von Hilfsgütern in den Nordirak begonnen. Am Freitag starteten fünf Transall-Maschinen aus Deutschland Richtung Erbil, beladen mit Lebensmitteln, Medikamenten und Decken.
Aber auch die Debatte über mögliche Waffenlieferungen ging weiter: Regierungssprecher Steffen Seibert sagte, eine Entscheidung darüber gebe es nicht, es werde geprüft. Nach Informationen der „Bild“-Zeitung wird im Verteidigungsministerium bereits darüber nachgedacht, Gewehre des den Kurden vertrauten Typs Kalaschnikow einschließlich Munition aus Beständen Rumäniens und Bulgariens zu transportieren.
Jedenfalls schlossen Bundeskanzlerin Angela Merkel, Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (beide CDU) und Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) solche Rüstungslieferungen nicht mehr aus. Von der Leyen erklärte, die Kurden vor Ort seien auf russische Waffensysteme angewiesen. „Auf die sind sie ausgebildet und mit denen kämpfen sie.“ Steinmeier will am Wochenende persönlich in den Irak reisen, um sich vor Ort zu informieren, welche Hilfe tatsächlich nötig ist: „Wir werden auch sehen müssen, was wir zum Schutz der Sicherheitskräfte in Kurdistan tun können.“
Es ist bemerkenswert, dass die Bundesregierung angesichts derart konkreter Überlegungen noch kein Wort zu den möglichen Folgen eines solchen Engagements verloren hat: Was kommt danach? Offiziell begrüßte Steinmeier den Rückzug des langjährigen irakischen Ministerpräsidenten Nuri al-Maliki und forderte dessen designierten Nachfolger Haidar al-Abadi auf, binnen weniger Tage eine Einheitsregierung in Bagdad zu bilden. Die habe dann die Aufgabe, der militärischen Bedrohung durch die Terrorgruppe Islamischer Staat (IS) „Paroli zu bieten“, so Steinmeier.
Wer Waffen an die Kurden liefert, könnte allerdings einen ganz anderen Prozess befördern. Denn der Präsident der Autonomen Region Kurdistan im Nordirak, Masud Barzani, macht keinen Hehl daraus, dass er einen eigenen Staat anstrebt. Unabhängigkeit sei keine Sünde, sondern „das natürliche Recht einer Nation“, sagte Barzani jüngst. „Wer das leugnet, tut den Menschen Unrecht.“ Er kündigte eine Volksbefragung an: „Wir arbeiten mit dem kurdischen Parlament an einem Referendum zu dieser Frage.“ Nun lässt sich darüber diskutieren, ob diese Ankündigung vor allem als Drohgebärde dient, um sich mehr Einfluss in der gesamt-irakischen Regierung zu verschaffen. Wer Barzanis Peschmerga-Soldaten mit Waffen aufrüstet, muss das Vorhaben aber ernst nehmen – und deshalb die Frage beantworten: Würde Deutschland einen kurdischen Staat im Nordirak unterstützen? Und: Wäre ein solches Kurdistan im deutschen Interesse?
Karl-Georg Wellmann gehört zu den wenigen deutschen Politikern, die sich darüber schon Gedanken gemacht haben. Der CDU-Außenpolitiker war der erste Bundestagsabgeordnete, der sich offen für Waffenlieferungen an die Kurden ausgesprochen hat. Und er hat diese Forderung zu Ende gedacht – und plädiert für einen unabhängigen Kurdenstaat. Natürlich stehe derzeit die Bewältigung der humanitären Katastrophe und die Bekämpfung des islamistischen Terrorismus im Vordergrund, sagte Wellmann. „Gleichzeitig braucht es aber einen politischen Prozess, der die ganze Region befriedet.“ Der irakische Zentralstaat habe sich als instabil erwiesen, sei weiter denn je von einem funktionierenden Staatswesen entfernt und vor allem nicht in der Lage, Sicherheit und Ordnung im Land zu gewährleisten, sagte der Christdemokrat „Im Gegensatz dazu hat sich das autonome Kurdengebiet als politisch und ökonomisch stabil erwiesen. Schon heute genießen die irakischen Kurden politische Autonomie. Diese Selbstbestimmung sollte vertieft werden.“ Das Ergebnis könne eine kurdische Eigenstaatlichkeit sein. Jedenfalls, so Wellmann, sei die Wahrscheinlichkeit größer, „dass sich ein stabiles und am Westen orientiertes autonomes kurdisches Staatswesen herausbildet, als die Überwindung der tiefen religiösen und ethnischen Gräben des restlichen Irak“.
Bei Sozialdemokraten und Grünen will man einen Kurdenstaat zumindest nicht ausschließen. Niels Annen, außenpolitischer Sprecher der SPD, hält eine Unterstützung nur für den Fall für opportun, dass die neue Einheitsregierung in Bagdad mit dem Versuch scheitert, den Irak zu stabilisieren. „Sollte diese Option scheitern, wird auch Deutschland über Konsequenzen nachdenken müssen“, sagte Annen. „Unabhängig davon erscheint mir, ein aufgewerteter Dialog mit den unterschiedlichen kurdischen Gruppen im Irak und Syrien sinnvoll zu sein.“ Zunächst aber bleibe der Zusammenhalt des Irak im deutschen Interesse: „Der teilweise Zusammenbruch der Peschmerga unter dem Ansturm des IS hat zudem gezeigt, dass die kurdische Regionalregierung nicht so stark ist wie angenommen.“
Tatsächlich bekannte Barzani in einem Telefonat mit Außenminister Steinmeier am Montag, dass er von der militärischen Schlagkraft der Terrormiliz IS überrascht gewesen sei. Ohne die Luftunterstützung der USA hätten die Kurden wohl auf verlorenem Posten gestanden. Mittlerweile, so ist aus der Region zu hören, sind die Kurden zuversichtlich, die Lage wieder einigermaßen unter Kontrolle zu haben – jedenfalls in der unmittelbaren Umgebung der Stadt Erbil. Aus einem jesidischen Dorf in der Sindschar-Region im Nordirak allerdings kam am Freitag die Nachricht, dass Kämpfer des IS ein Massaker mit bis zu 100 Toten begangen haben sollen.
Auch vor dem Hintergrund solcher Meldungen hat Omid Nouripour, außenpolitischer Sprecher der Grünen-Bundestagsfraktion, Verständnis dafür, dass die Kurden „nicht mehr Teil des Chaos sein wollen“. Sie verantworteten die lange Zeit einzige stabile Region im Irak, hätten auch die Minderheitenrechte hochgehalten. „Trotzdem muss die Tür dafür offen bleiben, dass sie bei einer Neuordnung des Iraks eine wichtige Rolle spielen können“, sagte Nouripour.
Aus dem deutschen Beitrag im Nordirak die politische Unterstützung eines unabhängigen kurdischen Staates abzuleiten, wäre falsch, meint dagegen der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Union Andreas Schockenhoff (CDU). „Die staatliche Einheit des Irak zu erhalten, ist eine zentrale Aufgabe der neuen Regierung unter al-Abadi“, sagte Schockenhoff. Der angekündigte Rücktritt des bisherigen Premiers Maliki sei die notwendige Voraussetzung, um mit einer Regierung unter maßgeblicher Beteiligung aller Bevölkerungsgruppen den IS-Terroristen die Unterstützung sunnitischer Teile der irakischen Bevölkerung zu entziehen. „Eine kurdische Unabhängigkeit würde die dafür notwendige staatliche Einheit des Irak zerstören und somit nur den Zielen der IS-Terrorgruppe in die Hände spielen“, so der CDU-Politiker.