Opposition spricht von bis zu sieben Toten. Die Proteste gegen den ukrainischen Präsidenten Janukowitsch versinken im Chaos. Die Russland-treue Führung hat kaum noch Argumente auf ihrer Seite.

Kiew. Mit den ersten tödlichen Schüssen auf Demonstranten in Kiew eskaliert die Gewalt in der ukrainischen Hauptstadt. Radikale Gegner des prorussischen Präsidenten Viktor Janukowitsch liefern sich blutige Straßenschlachten mit Sicherheitskräften. Stapelweise brennen Reifen, giftiger schwarzer Qualm liegt über dem Zentrum – es wirkt wie ein düsteres Omen.

Im Schneetreiben rücken Spezialeinheiten mit Schützenpanzern vor. Oppositionelle ducken sich hinter ausgebrannten Stahlskeletten von Einsatzfahrzeugen. Als Waffen dienen Steine und Molotow-Cocktails sowie Blendgranaten und Wasserwerfer bei Minusgraden. Und nun offenbar auch erstmals scharfe Munition – mehrere Männer sind erschossen worden. Die Opposition spricht am Abend von drei bis sieben Toten.

Damit wäre eine historische Grenze überschritten, meint auch der deutsche Botschafter Christof Weil. Denn trotz aller Krisen und bisweilen gewaltsamer Proteste: Noch nie sind bei politischen Krisen in der seit 1991 unabhängigen Ex-Sowjetrepublik Schusswaffen eingesetzt worden. Im Gegenteil – bislang galt die Ukraine stets als Beispiel für friedlichen Machtwechsel, etwa bei der demokratischen Orangenen Revolution 2004. Jetzt aber ist der Widersacher – Janukowitsch – von damals an der Macht. Und erstmals fließt Blut, beide Seiten beklagen Hunderte Verletzte.

Das Machtlager und die gemäßigte prowestliche Opposition um Ex-Boxweltmeister Vitali Klitschko machen sich gegenseitig verantwortlich für die Opfer. Kiew ist voller Gerüchte. Wer die tödlichen Schüsse abgefeuert hat, ist noch unklar. Unkontrollierte Spezialeinheiten oder vielleicht ultraradikale Provokateure? Neutrale Beobachter neigen zur ersten Möglichkeit. Angeblich sind Scharfschützen im Einsatz. Fakt ist aber: Einen offiziellen Schießbefehl haben die Einsatzkräfte nicht.

Vor allem westliche Experten halten auch Aufforderungen Russlands an die Regierung in Kiew, sich das Treiben nicht gefallen zu lassen, für brandgefährlich. Mit Milliarden Euro hat Kremlchef Wladimir Putin kürzlich den finanziell schwer angeschlagenen Nachbarn gestützt. Und in der Tat führte die Hilfe kurzfristig zu einer Entspannung, die dicken Schecks aus Moskau machen so manchem Hoffnung.

Aber längst gibt es zahlreiche Bürger, denen es darum geht, in einem anderen System zu leben. Vor allem junge Menschen machen bei den friedlichen Protesten auf dem Unabhängigkeitsplatz – dem Maidan – ihrer Sehnsucht nach einer Zukunft in einem freien Europa Luft. Sie fordern auf Dauer gleiche Bedingungen wie in der nahen EU mit visafreiem Reisen und ein Leben ohne Korruption. Diesen Traum hatte ihnen Janukowitsch genommen, als er Ende November ein weitreichendes Abkommen mit der EU auf Drucks Russlands verweigerte.

Spätestens mit den Todesschüssen steigt der Druck auf den ohnehin kaum beliebten Präsidenten, zurückzutreten und den Weg für einen Neuanfang frei zu machen. Die Wut auf die „Banditen“ aus dem prorussischen Osten des Landes ist gewaltig. „Das Regime Janukowitsch ist eine Vereinigung von Kriminellen mit dem Staatsapparat“, schimpft der Oppositionspolitiker und frühere Innenminister Juri Luzenko.

Dass Regierungschef Nikolai Asarow ungeachtet der Gewalteskalation zum Wirtschaftsforum ins Schweizer Davos will, ist für viele der endgültige Beweis, dass der Führung das Volk egal ist und sie nur noch den eigenen Machterhalt sichern will. „Nieder mit der Diktatur!“, lautet die neue Parole auf der Straße.

Ein Krisentreffen von Janukowitsch und den Oppositionsführern galt als letzte Hoffnung auf einen Ausweg aus der innenpolitischen Krise, führte dann aber doch zu keinem Ergebnis. Die Fronten sind verhärtet: Die Regierungsgegner beharren auf dem Rücktritt Janukowitschs und vorgezogenen Präsidentenwahlen, die bislang für 2015 geplant sind. Und sie verlangen die Rücknahme drakonischer Gesetze, die seit Mittwoch die Pressefreiheit und das Versammlungsrecht massiv einschränken.

Den nationalistisch geprägten Westen um die Großstadt Lwiw (Lemberg) nahe der Grenze zur EU hat die Regierung ohnehin verloren. Hier haben radikale Oppositionelle das Sagen, von hier aus brechen täglich Hunderte zumeist junge Regierungsgegner in Richtung Kiew auf. Schon warnen Experten vor einem Zerfall des zweitgrößten Flächenstaats Europas, dem wichtigen Transitland für russisches Gas nach Westen.