Oppositionspolitiker fürchtet, dass es in der Ukraine bald Tote geben könnte. Gespräch mit dem Präsidenten geplatzt
Kiew. Nach neuen Angriffen radikaler prowestlicher Demonstranten auf Sicherheitskräfte bleibt die Lage in der ukrainischen Hauptstadt Kiew angespannt. Hunderte Gewaltbereite warfen in der Nacht zum Dienstag Brandsätze und Steine auf Polizisten. Der Oppositionspolitiker Vitali Klitschko räumte ein, dass die Opposition „die Bewegung nicht mehr unter Kontrolle“ habe. „Wenn Janukowitsch mit seinen Repressalien so weitermacht, würde es mich nicht wundern, wenn es bald Tote zu beklagen gibt“, schrieb er in einem Gastbeitrag für die „Bild“-Zeitung. Schuld daran sei die Regierung von Präsident Viktor Janukowitsch, der acht Wochen lang nicht darauf gehört habe, was Hunderttausende Menschen von ihm friedlich gefordert hätten.
Anders als erwartet trafen sich Klitschko und Janukowitsch am Dienstag nicht zu neuen Krisengesprächen. Beide Seiten gaben sich gegenseitig die Schuld. „Der Präsident hatte eine Beratung“, teilte der Boxweltmeister mit. Daraufhin sei er wieder umgekehrt. Die Präsidialverwaltung behauptete hingegen, Klitschko habe sich an einer Arbeitsgruppe zur Lösung der politischen Krise beteiligt. Der russlandtreue Janukowitsch habe währenddessen mit Regierungschef Nikolai Asarow „die sozio-ökonomische Entwicklung“ besprochen.
In Moskau gab der russische Außenminister Sergej Lawrow dem Westen eine Mitschuld an den Gewaltexzessen. Mit ihrer Teilnahme an den Straßenprotesten versuchten Politiker westlicher Länder, die diplomatische Beziehungen zur Ukraine pflegen, Gewalt zu provozieren, sagte er. Die Opposition in Kiew verletze selbst die europäischen Regeln. Nur ein Dialog und keine Einmischung von außen könne die Lage beruhigen.
Klitschko warf der Führung um Janukowitsch vor, sie wolle die Situation destabilisieren und Chaos schaffen. „Schläger wurden in die Hauptstadt gebracht, um Autos anzuzünden, Schaufenster einzuschlagen, zu stehlen und Schlägereien zu provozieren“, behauptete der Ex-Boxweltmeister. Er habe persönlich zwei Provokateure gestellt.
Auf Videos führten selbst ernannte „Selbstverteidigungskräfte“ Dutzende junge Männer vor, die angeblich für Chaos sorgen sollten. Gewaltbereite Ultranationalisten forderten Janukowitsch auf, ins Exil zu gehen. Andernfalls könnten Leib und Leben des Präsidenten und seiner Familie nicht mehr garantiert werden, hieß es in einer Mitteilung. Bei den Straßenschlachten waren seit Sonntag insgesamt mehr als 200 Menschen verletzt worden. Die Ausschreitungen waren nach einer Massenkundgebung gegen die Verschärfung des Demonstrationsrechts und andere umstrittene Gesetze ausgebrochen. Das Innenministerium in Kiew berichtete von mindestens 119 verletzten Sicherheitskräften. 80 Beamte würden noch in Kliniken behandelt. Etwa einem Dutzend der festgenommenen Demonstranten droht jahrelange Haft wegen der Teilnahme an Massenunruhen.
Die regierungskritischen Demonstranten müssen von sofort an mit drakonischen Strafen rechnen: Die von Janukowitsch unterzeichneten neuen Gesetze wurden am Dienstag im Amtsblatt „Golos Ukraini“ veröffentlicht, was ihr automatisches Inkrafttreten zur Folge hat. Die Neuregelungen mit der Verschärfung von Strafen waren in der vergangenen Woche im Parlament in Kiew per Akklamation beschlossen worden. Das Gesetzespaket sieht unter anderem Geld- oder Haftstrafen für das Tragen von Masken oder Helmen, das ungenehmigte Aufbauen von Bühnen oder Zelten sowie die Blockade öffentlicher Gebäude vor. Außerdem hatte ein Gericht Mitte vergangener Woche ohne Angaben von Gründen entschieden, dass im Zentrum der Hauptstadt Kiew bis zum 8. März nicht mehr demonstriert werden dürfe.
Die ukrainischen Kirche forderten wegen der schweren Krawalle in Kiew direkte Verhandlungen zwischen Janukowitsch und der Opposition zur Lösung der politischen Krise. Das Land stecke in der schlimmsten Krise seit seiner Unabhängigkeit 1991, sagte der orthodoxe Kiewer Patriarch Filaret am Dienstag. Sie sei durch das Fehlen eines „echten Dialogs zwischen den Konfliktparteien“ verursacht worden.
Ähnlich wie Filaret mahnte auch das Oberhaupt der griechisch-katholischen Kirche des Landes, Großerzbischof Swjatoslaw Schewtschuk, Gewalt sei niemals der Weg, um einen freien Staat zu errichten. Er rief die Regierung auf, auf das Volk zu hören und keine Gewalt oder „Mittel der Repression“ gegen es anzuwenden.