Am Tag eins nach Mursi herrscht Aufbruchstimmung am Tahrir-Platz in Kairo. Die Einheit der Reformkräfte aber ist brüchig

Kairo. Seit dem Sturz Husni Mubaraks im Februar vor zwei Jahren hat es auf dem Tahrir-Platz nicht mehr so viele ägyptische Fahnen gegeben wie jetzt. An den Schaufenstern vieler noch aus Sicherheitsgründen geschlossener Läden kleben Sticker in Rot-Weiß-Schwarz. Die vom langen Feiern übernächtigten Menschen haben die Nationalfarben auf ihre Wangen gemalt, Kinder halten Fähnchen in den Händen. Ein Autokorso fährt hupend mit wehenden Fahnen über den Platz wie sonst bei einer Hochzeit. Und als ob das alles nicht genug wäre, malen Flugzeuge der ägyptischen Armee die Farben an den Himmel, just in dem Moment, als der neue Interimspräsident Adli Mansur seinen Eid schwört.

Am Tag eins nach Mursi herrscht Aufbruchstimmung am Tahrir-Platz. „Bei Mubarak haben wir 18 Tage gebraucht, um ihn zu stürzen“, sagt ein junger Mann, der der Stadtreinigung hilft, Berge von abgegessenen Maiskolben, Cola-Dosen und Sandwich-Papier auf einen Haufen zu kehren. „Für Mursi nur fünf Tage.“ Ob sie den nächsten Präsidenten dann noch schneller stürzen wollen? Tarek lacht und zuckt mit den Schultern: „Darin sind wir jetzt Profis. Wer einen Präsidenten stürzen will, sollte sich bei uns eine Lektion holen.“

Von der Kraft der Massen haben die Ägypter nun schon zweimal Gebrauch gemacht. Dominierte beim Langzeitpräsidenten Husni Mubarak noch der Überraschungseffekt, war es bei Mohammed Mursi inzwischen das Selbstbewusstsein, das die Massen auf die Straßen trieb. „Und wenn der Nächste nichts taugt, kicken wir ihn wieder aus dem Amt“, so die vorherrschende Meinung. Der Tahrir-Platz ist zum Synonym einer Graswurzelbewegung geworden, einer außerparlamentarischen Opposition. Da das erste frei gewählte Parlament der Post-Mubarak-Ära vom Verfassungsgericht aufgelöst wurde und die verbliebene Zweite Kammer, der Schura-Rat, nur von Islamisten dominiert ist, stimmte die Opposition mit den Füßen ab. Man kann es auch als Referendum bezeichnen, was hier in den vergangenen Tagen passiert ist. Und das Militär half ihnen dabei. So jedenfalls sahen es Hunderttausende, als Verteidigungsminister Abdel Fattah al-Sisi die Absetzung Mursis als Präsident verkündete, die Verfassung außer Kraft setzte und eine Übergangsregierung aus Technokraten ankündigte. Nein, sagten die Menschen im Freudentaumel am Tahrir, ein Militärputsch sei das nicht. „Das Volk und die Armee gehen Hand in Hand.“

Der Slogan aus den Tagen der Revolution gegen Mubarak ist wieder auferstanden. „Teil zwei des Honeymoons zwischen Volk und Armee“, titelt die Zeitung „Al-Ahram“. Vergessen scheint die Zeit, als am Tahrir neben Mubarak auch Feldmarschall Tantawi symbolisch am Galgen hing und der Zorn der Opposition sich gegen den auf Mubarak folgenden Militärrat richtete. Auch deshalb haben viele Ägypter bei der Präsidentenwahl vor einem Jahr Mursi ihre Stimme gegeben, weil sie die Macht der Militärs brechen wollten.

Der Kellner im Café Riche an der Talat-Harb-Straße, die vom Tahrir-Platz abgeht, scheint so alt zu sein wie das Gasthaus selbst. Ohne eine Miene zu verziehen, verrichtet Ibrahim seinen Job, schleppt Tabletts mit Essen und Trinken an die Bistrotische. Seit 1908 ist hier ein Kommen und Gehen, jede Epoche hinterlässt Spuren ihrer Gäste.

Junger Mann auf dem Tahrir-Platz

Den schwarzen Kellner aus Nubien, ganz im Süden von Ägypten, an der Grenze zum Sudan, ficht die Aufregung dieser Tage nicht an. Er steht über der Zeitenwende. An den Wänden hängen vergilbte Fotos von Berühmtheiten wie Nobelpreisträger Naguib Mahfus, Schauspieler und Musiker aus den 50er- und 60er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Jassir Arafat soll während seines Studiums in Kairo im Riche verkehrt haben, und auch Saddam Hussein. Nach der Revolution der freien Offiziere 1952, die den ägyptischen König stürzten und seitdem nur Militärs als Staatsoberhäupter zuließen, wurde das Café traditionell zum Treffpunkt der Opposition. Mitglieder der Wafd-Partei und der Tagumma unterhielten schon zu Zeiten Mubaraks regelmäßig Stammtische hier und auch Mohammed al-Baradei, der jetzt für einen hohen Posten in der Übergangsregierung vorgesehen ist, hat schon im Riche gegessen. Die Absetzung Mursis wurde bis um drei Uhr morgens gefeiert. Neun Stunden später sitzen die neuen Revolutionäre mit tiefen Ringen unter den Augen beim Frühstück und fragen sich, wie es jetzt weitergeht mit Ägypten.

Die Ära der Muslimbrüder sei endgültig vorbei, meint ein Student, der extra aus Alexandria in die Hauptstadt kam, um den Sturz Mursis mitzuerleben. „Die haben genug Schaden angerichtet.“ Er findet es gut, dass die Militärs hohe Funktionäre der Muslimbrüder verhaftet und Mursi zum Hausarrest ins Verteidigungsministerium verdonnert haben. „Denen gehört der Prozess gemacht.“ Als Vergehen der Islamisten nennt er die Verhaftungen und zum Teil Verurteilungen von Demonstranten, Medienvertretern und Bürgern, die während der einjährigen Amtszeit Mursis wegen Verleumdung des Präsidenten oder Blasphemie beschuldigt wurden; und er erinnert an die Ägypter, die bei den blutigen Auseinandersetzungen vor dem Präsidentenpalast im November vergangenen Jahres von Schlägertrupps der Islamisten getötet und verletzt worden sind. Eines allerdings müsse man Mursi und den Muslimbrüdern zugute halten, meint ein anderer am Frühstückstisch.

Durch ihr Verhalten hätten sie die ewig zerstrittene Opposition geeint. Nie zuvor seit der Revolution gegen Mubarak hätten die Oppositionskräfte mit einer Stimme gesprochen, sagt Amr, der sich zunächst al-Baradei, dem ehemaligen Chef der Atomenergiebehörde und Friedensnobelpreisträger, anschloss und schließlich wegen der Streitigkeiten von ihm abfiel. Die Gründung der NSF, der Nationalen Heilsfront, mit den drei Schwergewichten Baradei, Amr Mussa und Hamdin Sabahi an der Spitze, sei endlich einmal ein Schritt in die richtige Richtung gewesen. Doch die Tatsache, dass nicht die NSF, sondern die Graswurzelbewegung Tamarod die Kampagne gegen Mursi organisiert hat, lässt Amr befürchten, die Einheit der Opposition werde nicht lange währen. Trotzdem hofft er, dass die zugesagten Wahlen endlich eine Alternative zu den Islamisten entstehen lassen.