Bewegt vom Geist, der das Osmanische Reich gründete: Der türkische Ministerpräsident will den Einfluss seines Landes weiter ausdehnen.
Berlin. Seit ungefähr drei Jahren wird die türkische Außenpolitik von westlichen Medien als neo-osmanisch beschrieben, also als der Versuch der heutigen Türkei, in moderner Form den Einflussbereich des alten Osmanischen Reiches zu rekonstruieren. Und seit drei Jahren wird der türkische Außenminister Ahmet Davutoglu nicht müde, das als Unsinn zu bezeichnen. Die neue "Öffnung nach Osten" (von manchen gerne auch "Abwendung vom Westen" bezeichnet) sei nur eine Normalisierung der Lage. Die Türkei müsse sich für ihre Nachbarn interessieren, habe das aber bis vor Kurzem nicht getan.
Das klang immer weniger expansiv, weniger aggressiv, pragmatisch halt und rational. Nun widerspricht dem eifrigen Außenminister sein eigener Chef. Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan sagte in gewohnt ungeschminkter Manier, die Türkei engagiere sich deswegen in der Region, weil diese vormals zum Osmanischen Reich gehörte.
"Wir sind bewegt vom Geist, der das Osmanische Reich gründete", sagte Erdogan am Sonntag. Dann sprach er die Kritik der Opposition an, die die nicht abwegige Frage gestellt hatte, was denn die Türkei im palästinensischen Gazastreifen, im nordafrikanischen Sudan und im vom Bürgerkrieg zerrütteten Syrien verloren habe. Sie solle sich doch besser in Brüssel engagieren, um den Beitritt der Türkei zur Europäischen Union zu forcieren. "Wir müssen überall dort hingehen, wo unsere Vorfahren gewesen sind", sagte Erdogan - also von Serbien bis zum Kaspischen Meer, vom Jemen bis nach Algerien?
Überhaupt scheint das ein seltsames Verständnis von Außenpolitik zu sein, nicht materielle Interessen, sondern Ahnentreue soll das türkische Banner in all jene Lande tragen, wo vor Jahrhunderten türkische Banner wehten. Das wären historisch gesehen wohl auch Kosovo, Albanien, Bosnien bis hin zu Ungarn. Um die Tore Wiens nicht zu erwähnen. Tatsächlich ist die Ausbreitung türkischer Interessen auf dem Balkan eine bislang viel zu wenig beschriebene Geschichte. Wirtschaftsbeziehungen, die teilweise mit wirtschaftlichem Druck einhergehen, sowie die Gründung türkischer Gülen-Schulen sind Zeichen dieses Vordringens. Es ist Teil jener Politik, die aus der Türkei laut Davutoglu ein "Gravitationszentrum" mindestens der Region, wahrscheinlich aber der Welt machen soll. Zu den Satelliten, die darum kreisen sollen, gehört dieser Vision nach nicht nur der Nahe Osten, sondern auch der Balkan.
Zur Untermalung seiner neo-osmanischen Rhetorik gesellt Erdogan gerne Erinnerungen an militärische Siege gegen die Mächte des Christentums. Vor rund zwei Monaten hatte er an die türkische Jugend appelliert, sich ein Beispiel zu nehmen an Alp Arslan (1063 bis 1072 Sultan der Großseldschuken), der im Jahr 1071 bei Manzikert das Byzantinische Reich entscheidend besiegt und den Weg nach Anatolien geebnet hatte.
Jetzt erwähnte Erdogan eine weitere Schlacht: "Uns bewegt der Geist der Märtyrer von Dulumpinar." Das war die Entscheidungsschlacht gegen die Griechen im türkischen Freiheitskrieg 1922. Griechenland hatte nach dem Ersten Weltkrieg mit Einwilligung der Westmächte Teile der Türkei besetzt.
Auffällig ist, dass Erdogan sich zwar zum Osmanischen Erbe bekennt und sich auch gern auf Schlachten bezieht - aber er zitiert nur Schlachten, die nicht unmittelbar aus osmanischer Zeit stammen. Die Türken von Manzikert waren als Seldschuken bekannt, ihr Sieg fiel in vorosmanische Zeit. Und 1922 führte Atatürk die Truppen an, also der Gründer der modernen Türkei, der das Kalifat und Sultanat abschaffte.
Erdogan stellte denn auch klar, dass er niemanden angreifen wolle, obwohl andererseits "unsere Geduld Grenzen hat" und er die Türkei "vor Bedrohungen beschützen" müsse. Und offenbar auch vor Türken, die Schlechtes über die Osmanen sagen. Derzeit läuft eine erfolgreiche Fernsehserie über die Zeit des Sultans "Süleyman der Prächtige", der im 16. Jahrhundert Ungarn eroberte und mit seiner Armee bis vor die Tore Wiens zog. "Muhtesem Yüzyil" ("Das prächtige Jahrhundert") wird in 22 Ländern ausgestrahlt, darunter in Russland, Griechenland, in vielen Ländern Südosteuropas und im arabischen Raum. Zwei Deutschtürkinnen, Meryem Üzerli und Selma Ergec, spielen in Hauptrollen Frau und Schwester des Sultans. Die Serie hatte bereits bei ihrer Erstausstrahlung im Januar 2011 zu heftigen Protesten von nationalistischen Muslimen in der Türkei geführt. Sie störten sich an den Darstellungen über das Liebesleben der historischen Figuren, die Intrigen im Harem und die Machtspiele im Palast.
Auch Erdogan will einen derart unheldenhaften Sultan Süleyman nicht hinnehmen. Er habe vielmehr "dreißig Jahre lang auf einem Pferderücken" zugebracht. Das Volk müsse jenen einen juristischen Denkzettel verpassen, die mit den Werten dieses Volkes spielten. "Wir haben die Autoritäten darüber informiert und warten auf eine gerichtliche Entscheidung", sagte Erdogan.
150 Millionen Fernsehzuschauer weltweit verfolgen die Serie, die der Geschichtsprofessor Halil Berktay als Seifenoper ohne historischen Anspruch bezeichnet. "Sollten Deutsche es übel nehmen, wie Otto von Bismark in Filmen dargestellt wird? Sollten Franzosen es übel nehmen, wie Ludwig der XIV. in der Kunst dargestellt wird? Niemand auf der Welt denkt so über Kunst nach." Die ganze Debatte sei von einer rückständigen und nationalistischen Mentalität geprägt. "Die Tatsache, dass der türkische Premierminister den Produzenten der Serie und dem Besitzer des Fernsehkanals droht, ist ein beängstigendes Beispiel von Zensur."
Aber Erdogan scheint es ernst zu sein, also künftig bitte keine Osmanen-Witze. Übrigens hatte Sultan Abdülhamid II. (1842 bis 1918) eine außergewöhnlich große Nase. Daher verfügte er, das Wort "Nase" dürfe in den Zeitungen nicht geschrieben werden. Vielleicht sollte Erdogan sich einmal an die seinige fassen.