Ist Fukushima so schlimm wie Tschernobyl? Welche Folgen kann die Katastrophe für die Menschen in Japan und in aller Welt haben?
Hamburg/Berlin. Vier Wochen nach dem schweren Beben in Nordostjapan, dem verheerenden Tsunami und den dadurch ausgelösten schweren Schäden am Atomreaktor Fukushima Daiichi ist die Havarie in die höchste Schadensstufe 7 eingeordnet worden. Nur die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl war bislang in der Kategorie "katastrophaler Unfall". Was bedeutet das? Das Abendblatt beantwortet die wichtigsten Fragen dazu.
Warum ist das Reaktorunglück von Fukushima erst jetzt in die höchste Kategorie eingestuft worden?
Tatsächlich waren bereits sehr viele strahlende Substanzen in die Umwelt gelangt, als offiziell die Störfallstufe 5 verkündet wurde. Internationale Experten haben bereits seit Wochen gefordert, die Katastrophe von Fukushima höher auf der sogenannten INES-Skala einzuordnen. Es kann nur spekuliert werden, warum Japan die Schwere des Unglücks erst mit einer deutlichen zeitlichen Verzögerung anerkannt hat. Vielleicht hat man geglaubt, dass sich das Unglück auf diese Weise psychologisch besser verarbeiten lässt.
Sind die Evakuierungszonen ausreichend und werden die Menschen jemals dorthin zurückziehen können?
Relativ schnell wurde eine 20 und dann eine 30 Kilometer große Sperrzone eingerichtet. Dies ist gewiss nicht ausreichend, denn auch außerhalb dieser Zonen hat man in verschiedenen Orten stark erhöhte Radioaktivität nachgewiesen. Die Werte liegen dort bisweilen deutlich über jenen, die innerhalb der 20-Kilometer-Zone gemessen wurden. Die radioaktiven Substanzen verbreiten sich eben nicht gleichmäßig in alle Richtungen. Abhängig vom Wind und den Niederschlägen kann es an bestimmten, auch weiter entfernt gelegenen Orten zu stark erhöhter Radioaktivität kommen. Letztlich kommt es darauf an zu messen, wo die Strahlungswerte eine Evakuierung der Region erforderlich machen. Ab welchem Wert man dies macht, ist dann allerdings eine Frage der Abwägung: Wie viel Risiko man Menschen zumuten kann, ist überhaupt keine wissenschaftlich zu beantwortende Frage. Dass jedoch die Menschen aus den bereits evakuierten Gebieten in ihre Heimat zurückkehren können, ist sehr unwahrscheinlich. Schließlich beträgt beispielsweise die Halbwertszeit von Cäsium-137 rund 30 Jahre.
Mit welchen gesundheitlichen Folgen müssen die Menschen in Japan durch die freigesetzte Radioaktivität rechnen?
Nur wer sehr hohen Strahlenbelastungen ausgesetzt wird, wie dies möglicherweise bei einigen der Arbeiter im Kraftwerk der Fall war, muss mit akuten Schädigungen von Organen oder des Immunsystems rechnen. Wer von der sogenannten Strahlenkrankheit betroffen ist, hat ein hohes Risiko, innerhalb von Wochen oder Monaten zu sterben. Wer nur einer leicht erhöhten Strahlung ausgesetzt ist, muss keine unmittelbaren Folgen fürchten. Allerdings erhöht jede zusätzliche Dosis an ionisierender Strahlung die Wahrscheinlichkeit, dass sich irgendwo im Körper eine Zelle in eine Krebszelle verwandelt und somit ein Tumor entsteht. Da dies jedoch ein statistischer Effekt ist, wird man im Einzelfall nie sagen können, dass ein bestimmter Patient eine Krebserkrankung als Folge des Reaktorunglücks bekommen hat. Er hätte sie ja vielleicht ohnehin bekommen.
Welches Unglück ist denn unter dem Strich schlimmer - Fukushima oder Tschernobyl?
Diese Frage lässt sich noch nicht beantworten. Nach offiziellen japanischen Angaben sollen in Fukushima bislang ungefähr zehn Prozent der Menge an radioaktiven Substanzen freigesetzt worden sein, wie seinerzeit in Tschernobyl. Doch es kann nicht ausgeschlossen werden, dass sich diese Menge noch deutlich erhöht. Bislang sind die havarierten Reaktoren von Fukushima ja nicht versiegelt und können weiterhin Radioaktivität freisetzen. Selbst von offizieller japanischer Seite wird nicht ausgeschlossen, dass am Ende durch die Katastrophe von Fukushima mehr strahlende Substanzen in die Umwelt gelangen könnten als in Tschernobyl.
Ines-Skala hilft bei Bewertung von atomaren Ereignissen
Ein wichtiger Unterschied zwischen Fukushima und Tschernobyl ist jedoch, dass es im havarierten Reaktor von Tschernobyl tagelang einen Grafitbrand gab, durch den per Kamineffekt eine große Menge radioaktiver Substanzen in sehr große Höhen aufsteigen konnten. Dort wurden sie mit den Winden über sehr große Distanzen weitergetragen. In Japan verläuft das Reaktorunglück in diesem Sinne deutlich lokaler. Allerdings sind hier wiederum große Mengen an Radioaktivität in ein Weltmeer, den Pazifik, gelangt.
Wie viele Opfer gab es bei dem Super-GAU in Tschernobyl?
Die Angaben klaffen weit auseinander. Das Tschernobyl-Forum - angeführt von der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) und der Weltgesundheitsorganisation (WHO) - geht davon aus, dass weniger als 50 Tote direkt in Verbindung mit dem Unfall standen. In dem Report der Organisationen werden rund 4000 Opfer angegeben, die infolge der Katastrophe an Krebs starben. Umweltschützer weisen jedoch darauf hin, dass der Bericht eigentlich auf ganz anderen Zahlen fußt. Die Gesundheitsexperten des Forums - die WHO-Gruppe "Health" - hätten für den Report eine Quelle aus dem Jahr 1996 herangezogen. In dieser werden zwar tatsächlich rund 4000 Krebstote (genau: 3960) unter den Liquidatoren, den Evakuierten und den Bewohnern der Kontrollzone angegeben. Zusätzliche 4970 Menschen, die an Krebs sterben, werden aber auch in anderen kontaminierten Gebieten gesehen. Alexej Jablokow von der russischen Akademie der Wissenschaften, geht von weitaus größeren Opferzahlen durch Tschernobyl aus: nämlich 1,44 Millionen Toten weltweit, wenn vorgeburtliche Todesfälle mit einbezogen werden sogar von 1,6 Millionen.
Sind Reaktorunfälle bezüglich der Radioaktivität mit Atomtests zu vergleichen?
Bislang hat es offiziell mehr als 2050 Atombombentests gegeben. Wie viele Menschen im Laufe der Jahrzehnte an den Folgen der radioaktiven Strahlung gestorben sind, die von den Testgebieten ausgehen, ist nicht bekannt, die Zahlen sind umstritten. Die Organisation Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs (IPPNW) zitiert Studien, nach denen zwischen 1945 und 1989 weltweit 65 Millionen Menschen an den Folgen der künstlichen Radioaktivität aufgrund von Atomtests gestorben sind. Die meisten Testgebiete, etwa in der ehemaligen Sowjetunion, sind noch immer hoch verstrahlt und nicht bewohnbar.