Scharm al-Scheich in Ägypten gleicht in diesen Tagen immer noch einem Paradies, aber nur für eine Handvoll unerschütterlicher Urlauber.
Die Reise nach Ägypten beginnt gespenstisch. Ein Airbus A300-330 steht bereit auf dem Nürnberger Flugplatz. Es ist die größte Maschine, die Air Berlin in ihrer Flotte hat: Doppelsitzreihen am Fenster, vier Plätze nebeneinander in der Mitte des Großraumfliegers mit 387 Sitzplätzen. Doch an diesem Morgen, es ist der Freitag vor fünf Tagen, sind nur drei Plätze belegt. Zwei etwa 35-jährige Frauen aus Berlin haben eingecheckt. Und der Reporter aus Hamburg. Sie sind definitiv die letzten deutschen Touristen, die noch in das Revolutionsland fliegen. Neben Pilot und Kopilot sind neun Stewardessen und Stewards an Bord. Sie haben einen ruhigen Flug vor sich. So leer sei der Flieger nicht einmal nach den Terroranschlägen in New York am 11. September 2001 gewesen.
Vorgestern waren noch 200 Passagiere auf die Freitagsmaschine ans Rote Meer gebucht, gestern nur noch 74, und heute waren eigentlich noch 18 Fluggäste avisiert. Sie haben wegen der aktuellen Ereignisse in Ägypten ihren Urlaub storniert oder auf Ansage ihrer Reisegesellschaft stornieren müssen. In normalen Zeiten wäre die Maschine ins Ferienparadies Scharm al-Scheich auf der Sinai-Halbinsel voll ausgebucht, sagt Stewardess Claudia: "Von Urlaubern, die vor den grauen Wintertagen in Deutschland in die Sonne des Nahen Ostens fliehen. Nutzen Sie dieses Himmelfahrtskommando für ausgedehnte Spaziergänge im Airbus oder drehen Sie gar ein paar Joggingrunden. Wenn Sie Wünsche haben - jeweils drei Servicekräfte kümmern sich um Ihr Wohl an Bord. So einen erstklassigen Service kriegt nicht mal die Bundeskanzlerin in ihrer Regierungsmaschine."
Momentan sind keine normalen Zeiten. Es ist der 4. Februar. Das Auswärtige Amt warnt vor Reisen in ägyptische Großstädte, und auch vor Reisen in die Urlaubsgebiete rät es dringend ab. In Ägypten brodelt die Revolution. Auf dem Platz der Befreiung in Kairo verharren noch immer Tausende Demonstranten. Sie wollen Mubarak und seine korrupte Clique endlich in die Wüste schicken. Sie wollen Demokratie und Meinungsfreiheit. Etwa 300 Menschen sind bislang bei den gewalttätigen Auseinandersetzungen in Ägypten ums Leben gekommen, Tausende wurden verletzt. Und bis heute weiß niemand, wie sich die Dinge weiterentwickeln werden. Alles scheint möglich. Ägypten ist ein Pulverfass, auf das die Welt mit großer Besorgnis schaut.
Die beiden Passagiere aus Berlin haben andere Sorgen. Sie möchten in dem Geisterflieger nach Scharm al-Scheich "höchstens von hinten" fotografiert werden, Namen und Beruf nicht verraten und schon gar nicht in der Zeitung lesen. "Weil die Leute dann doch denken, dass wir eine Macke haben, jetzt noch zu fliegen. Und ich könnte das sogar aus ihrer Sicht verstehen", erklärt die Blondine, die in Jeans und fliederfarbenem Pullover lässig und lächelnd in der dritten Sitzreihe im Flieger fläzt. "Ein bisschen verrückt sind wir ja auch. Aber als wir vor vier Wochen den Flug nach Scharm al-Scheich, drei Übernachtungen und Vollverpflegung im Ritz Carlton gebucht hatten, war gar nicht abzusehen, dass es in Ägypten so knallt und kracht. Die Reise war ein echtes Schnäppchen. Es wäre schade um die schönen Sonnentage im Luxushotel mit Meerblick", sagt die Brünette, die hohe Stiefel, Kleid und an Händen und Hals Goldschmuck trägt. "Es regnet so gut wie nie, die Temperatur liegt konstant zwischen 23 und 28 Grad, das Wasser über 20 Grad. Gebucht ist gebucht. Wir machen jetzt das Beste draus."
Der Airport in Scharm al-Scheich ist verwaist. Nur zwei Maschinen britischer Airlines stehen unter der sengenden Sonne. Die Ankunft- und die Abflughalle - leer. Die wenigen Taxifahrer verlangen doppelte Preise. Tankstellen haben kein Benzin, Basare und Banken sind geschlossen, nicht mal die Geldautomaten spucken noch Scheine aus.
In den malerischen Buchten, an den Traumstränden und im wüsten Hinterland von Scharm al-Scheich gibt es 250 Hotels mit rund 100 000 Betten. Vor einer Woche, als die Straßenschlachten und der Kampf in Kairo eskalierten, ist es hier plötzlich leer geworden, sagt der Taxifahrer. Im Urlaubsparadies und in seiner Brieftasche.
Als Erstes haben vor einigen Tagen die Belgier ihre Touristen aus Ägypten komplett abgezogen, es folgten die Holländer, dann die Franzosen. Und nicht nur die Deutschen holen seit einigen Tagen mit großen Maschinen, die leer hinfliegen, die letzten Urlauber aus dem Land, auch Polen, Engländer, Italiener, Schweizer, Österreicher, sogar die Russen. Die meisten Touristen sind weg. Die internationalen Reisegesellschaften haben Ägypten ganz aus dem Programm genommen. Am kommenden Freitagnachmittag, so der aktuelle Stand, sollen die allerletzten deutschen Touristen aus dem Land der Pharaonen und Pyramiden mit einer Air-Berlin-Maschine ausgeflogen werden.
Karl-Heinz Wöbbeking, 69, aus Stadthagen bei Hannover will bleiben. Der ehemalige Handelsvertreter für Gardinen und Teppiche hat entgegen seiner sonstigen Gewohnheit dieses Mal statt acht "nur" vier Wochen gebucht. Bis zum 22. Februar. Und so lange, sagt er, beabsichtige er auch zu bleiben: "Und wenn ich hier als Letzter das Licht ausmache. Was soll ich jetzt zu Hause, Däumchen drehen und in der Kälte bibbern? Dazu habe ich keine Lust. Ich habe alles inklusive gebucht. Wenn da jetzt noch die arabische Revolution gratis mit draufkommt, okay, dann nehme ich die auch noch mit. Irgendwie ist dieser Urlaub jetzt für mich auch ein Abenteuer."
Die Reiseleiterin von ITS versucht den Rentner, der durchaus über sich selbst schmunzeln kann, schon seit Tagen zu erreichen. Er solle sich schnellstmöglich melden, steht auf den Zetteln, die an der Rezeption hinterlegt sind. Doch Wöbbeking denkt nicht dran. Er fürchtet, dass die Reiseleiterin "bad news" für ihn hat. Dass die nächste Maschine in den "fürchterlichen deutschen Winter" seine sein soll.
Genüsslich rekelt sich Herr Wöbbeking vorerst jedoch noch am Pool der Vier-Sterne-Anlage Iberotel Club Fanara & Residence. Er legt den Roman weg, eine neue Schicht Sonnencreme auf, trinkt ein kühles Bier und freut sich, dass es 27 Grad im Schatten sind, dass er nicht morgens als Erstes noch vor dem Frühstück mit einem Handtuch seine Liege reservieren muss, wie es die Deutschen sonst so gerne tun. In normalen Pauschalurlauben. In normalen Zeiten. Herr Wöbbekings Hotel oberhalb einer Sandbucht mit Riffs und Korallenbänken im flachen, türkisblauen Wasser, vielen bunten Fischen, grandiosen Sonnenauf- und -untergängen besitzt sogar einen Privatstrand. Auch der, 100 Meter lang, 20 Meter breit, vier Sonnenschirm-Reihen und von Security bewacht, ist gähnend leer. Genauso wie die Bars und Restaurants auf der weitläufigen Ferienanlage, wie alle angrenzenden Hotels und Anlagen, die Basare, Krokodilshows und Kamelfarmen in Scharm al-Scheich und Umgebung. Alles ist wie ausgestorben.
Das Iberotel unweit des Leuchtturms an der Südküste hat 378 Zimmer, rund 1000 Betten und 280 Angestellte. Die Hälfte der Belegschaft, fast alle kommen aus Kairo, wurde bereits auf unbestimmte Zeit nach Hause geschickt. Das Büfett im Speisesaal wurde abgespeckt, hat längst kein Vier-Sterne-Niveau mehr. Die Animateure wissen nicht, wen sie animieren sollen, die Shopbetreiber im Hotel starren betrübt in leere Kassen, Taxifahrer und Securityleute rund um die Hotels bieten Drogen feil. Am vergangenen Wochenende sind nur noch knapp 30 Gäste im Iberotel. Ein paar Handvoll Russen und Engländer mit Kindern, ein Pole, ein Schweizer, zwei Ungarn, ein Dutzend größtenteils ältere deutsche Langzeiturlauber. Manche wie Evelyn, 51, Angestellte, und Reiner, 52, selbstständiger Glas- und Gebäudereiniger aus Brandenburg und wie Irmgard und Dieter aus der Nähe von Hamburg, beide 69 und Rentner, sind schon oft hier gewesen. Das eine Paar zum sechsten, das andere bereits zum zehnten Mal. Immer im Winter, immer im gleichen Hotel, meist sogar im gleichen Zimmer. Doch diesmal ist alles anders. Trotzdem ziehen die vier ihren Urlaub durch. Der letzte Flieger am Freitag ist ihrer, hoffen sie. Wie vor Monaten im Katalog bestellt. Gebucht ist gebucht, erklären auch die bereits ziemlich braun gebrannten Pauschaltouristen, die angereist sind, als die Straßenschlachten in Kairo schon im Gange waren, es erste Tote und Verletzte gab.
"Kairo ist fast 500 Kilometer weit weg. Hier ist es doch herrlich ruhig und schön wie immer. Und dass in Scharm al-Scheich Militär einmarschiert ist, dass es erste Unruhen gebe, wie manche Nachrichten voreilig vermeldeten, ist völliger Blödsinn. Hier ist und bleibt alles friedlich und freundlich", sagt der ehemalige Bootsbauer Dieter, während ihm im warmen Wasser exotische Fische um den Bauch kreisen.
"In Scharm wird es keine Straßenschlachten geben", hofft auch seine Frau Irmgard. "Und wenn doch was passiert, dann werden wir ganz bestimmt rechtzeitig rausgeholt", ist sich Evelyn aus Brandenburg sicher. Sie jedenfalls kenne keinen, der freiwillig früher abgereist sei. Und überhaupt: Als in Deutschland die Mauer fiel, seien die Leute doch trotzdem in Urlaub gefahren, ging das normale Leben auch irgendwie weiter. So wie jetzt hier, für sie. In ihren Zimmern können die deutschen Pauschaltouristen ZDF und RTL gucken. "Die Nachrichten sind für mich momentan so spannend wie ein Krimi. Ich gucke sie täglich", sagt Evelyns Mann Reiner. "Wir erleben gerade live mit, wie der ägyptische Tourismus stirbt. Aber ich bin sicher - er wird in wenigen Monaten wieder zum Leben erweckt."
Am Montagmorgen - Tankstellen und Banken haben endlich wieder geöffnet - sind weitere Feriengäste zum Flugplatz gefahren. Im Iberotel wird zum Frühstück, Mittag- und Abendessen nicht mal mehr das Büfett aufgebaut. Die letzten verbliebenen Urlauber machen lange, die Angestellten traurige Gesichter. Die ITS-Reiseleiterin erreicht Herrn Wöbbeking aus Stadthagen doch noch. Sie erklärt ihm, dass sein Rückflug bereits am Donnerstag gehe. "Sie müssen ihn nehmen", sagt die Reiseleiterin eindringlich. "Es ist die letzte Maschine, auf die ich Sie buchen kann. Wenn Sie nicht mitfliegen, sind Sie in Ägypten auf sich alleine gestellt."
Karl-Heinz Wöbbeking hechtet auf den Schock erst einmal in den Pool und zieht ein paar Bahnen. Er hofft weiter auf ein Wunder: dass er doch noch wie ursprünglich gebucht bis zum 22. Februar unter Ägyptens Sonne bleiben darf. "Und natürlich hoffe ich auch", sagt er augenzwinkernd, "dass die Revolution siegt und Normalität einkehrt."