Vor seinem Besuch bei Bundeskanzlerin Merkel regt Russlands Ministerpräsident Wladimir eine Freihandelszone der EU mit Moskau an.
Hamburg. Russland sei ein hinter der europäischen Zivilisation zurückgebliebenes Land, das alles einholen will, was es in 200 Jahren versäumt hat. Das harsche Urteil Kurt Tucholskys ist rund 80 Jahre alt. Wenn auch in dieser Härte heute längst nicht mehr gültig, so enthält Tucholskys Analyse auch im Jahre 2010 noch etliche Körnchen Wahrheit.
Die Frage, welche Position das russische Riesenreich in einer künftigen multipolaren Welt einnehmen soll, in der sich neben den USA mit der EU, China, Indien, Brasilien, Japan, Indonesien und möglichen weiteren Global Playern weit mehr Kraftzentren als in früheren Jahrzehnten etablieren, beschäftigt natürlich in erster Linie die Führung in Moskau.
Bezeichnenderweise hat sich der russische Ministerpräsident Wladimir Putin nun mit einer kühnen Vision zu Wort gemeldet - sicher nicht zufällig einen Tag vor seiner Ankunft zu Gesprächen in Deutschland. Heute will er mit Bundeskanzlerin Angela Merkel über Energie und andere Themen reden.
Am selben Tag einigten sich Moskau und die EU über die Bedingungen für Russlands Beitritt zur Welthandelsorganisation WTO; er könnte schon im ersten Halbjahr 2011 erfolgen.
Putin, früherer und möglicherweise auch wieder künftiger Präsident, sprach sich in einem Gastbeitrag für die "Süddeutsche Zeitung" für die Schaffung einer gigantischen "Wirtschaftsgemeinschaft von Lissabon bis Wladiwostok" aus - heftig applaudiert vom früheren Bundeskanzler Gerhard Schröder, heute Aufsichtsratschef des Pipeline-Konsortiums Northstream für russisches Gas. Putins Vorstoß hängt möglicherweise mit der gewachsenen politischen Statur des amtierenden Präsidenten Dmitri Medwedew zusammen. Der konzilianter auftretende Medwedew kooperiert gut mit dem Westen und scheut sich nicht, öffentlich Defizite seines Landes aufzuzeigen. In seinem Videoblog meinte Medwedew gerade, die russische Demokratie sei noch "unvollkommen", zudem drohe dem Land die politische Stagnation. Putin, der im Westen eher als jemand gilt, der den verloren gegangenen Supermachtstatus wiederherstellen will, hat offenbar das Bedürfnis, hier Boden gut zu machen.
Als Zukunftsvision für Europa schlägt er nun eine enge Partnerschaft mit der EU vor und dabei "Strategische Allianzen" auf den wichtigsten industriellen und technologischen Feldern wie beim Schiffs-, Auto- und Flugzeugbau, bei der Kernenergie, der Medizin- und Pharmatechnik. Eine "neue Industrialisierungswelle" solle über den europäischen Kontinent rollen, schrieb Putin. Außer einem gemeinsamen Kontinentalmarkt und einer Freihandelszone mit Kapazitäten in Höhe von Billionen Euro seien sogar "fortgeschrittenere wirtschaftliche Integrationsformen" denkbar. Vor allem aber die "Idee eines gemeinsamen Energiekomplexes pocht buchstäblich an die Tür". Der gegenwärtige Stand der Zusammenarbeit entspreche einfach nicht mehr den gemeinsamen Herausforderungen.
Natürlich, so fordert Putin, müsse dann aber der Visumzwang für russische Bürger fallen, da sonst eine echte Partnerschaft weiter behindert bliebe. Die Visafreiheit solle den "Anfang einer echten Integration von Russland und der EU manifestieren". Auch betont der Ministerpräsident, der immer noch als mächtigster Mann in Russland betrachtet wird, die Annäherung zwischen seinem Land und der EU könne "unmöglich gegen jemanden gerichtet sein". Eine "Abschwächung der Beziehungen zu traditionellen Partnern und Verbündeten" werde damit keineswegs verlangt. Es ist ein vorbeugender Hinweis vor allem an die Adresse der Amerikaner, die eine solche Verflechtung mit Argwohn betrachten könnten.
Ohne Frage bietet sich Russland für eine vertiefte wirtschaftliche Kooperation mit der EU an. Putin, der den Fall der Sowjetunion als "die größte geopolitische Katastrophe des Jahrhunderts" bezeichnet hat, vergisst nur zu erwähnen, dass Russland mit seinem autoritären Machtapparat und der düsteren Bilanz in Sachen Menschenrechte und Pressefreiheit in den Augen vieler Europäer gegenwärtig noch nicht die ideale Zivilgesellschaft darstellt, mit der man sich integrativ verbinden möchte.