Während der Fußball-EM steht auch die Politik der Ukraine im Fokus. Doch hinter dem Symbol Timoschenkos liegt eine komplexe Realität.
Hamburg/Kiew. Mitten in Kiew gibt es einen Ort, der nicht in den Reiseführern beschrieben ist: eine Zeltstadt, ein Lager, direkt an der Hauptstraße der ukrainischen Metropole, dort, wo sich dieser Tage Tausende Fußballfans aus England oder Italien tummeln. An einem Stand kann man einen Boxkampf bestreiten gegen den Präsidenten Viktor Janukowitsch. Der Besucher bekommt dann ein Foto von sich und dem ausgeknockten Staatschef. Janukowitsch verliert immer. Der Stand gehört Unterstützern von Julia Timoschenko.
Timoschenko, einst Regierungschefin und Ikone der Orangenen Revolution von 2004, zierlich, mit blondem Haarkranz, deutsche Medien zeigen gerne das Bild der "schönen Timoschenko" auf der Gefängnispritsche. Seit 2011 ist sie inhaftiert. Und Janukowitsch, der bullige Zweimetermann, wenig charismatisch, zum ersten Mal bereits 2002 Regierungschef des Landes - und 2004 dem Druck der Revolution erlegen.
Die Gegensätze könnten dramatischer nicht sein. Aber es geht nicht nur um Politik. Es geht auch um persönliche Rache zweier Rivalen im Kampf um die Macht in der Ukraine. Gerade deshalb ist die Situation für die inhaftierte Timoschenko im Moment so bedrohlich. Sie hat viele Feinde, die gerade in der Ukraine regieren. Momentan sind sie relativ vorsichtig, denn Europa spielt Fußball im eigenen Land.
+++ Timoschenko verweigert Teilnahme an neuem Prozess +++
Die Bundeskanzlerin bringen die Bilder der inhaftierten und kranken Timoschenko in eine schwierige Situation. Noch immer sei nicht entschieden, ob sie zu einem möglichen Finale der DFB-Elf nach Kiew reise, wie es für eine Regierungschefin normal wäre. "Nun stehe erst einmal das Halbfinale in Polen an", heißt es auf Nachfrage des Abendblatts aus dem Kanzleramt. Durch die Inszenierung der "guten Timoschenko" wird Angela Merkels Besuch im Stadion auch zu einer moralischen Frage.
Doch das oft suggerierte Bild, man müsse nur Timoschenko befreien und die Ukraine wäre auf dem Weg zu Demokratie und europäischer Integration, ist eher symbolhaft als realistisch. Dafür braucht es den Blick auf Timoschenko über die Gefängniszelle hinaus: Den Zusammenbruch der Sowjetunion nutzte sie und wurde schnell zur Multimillionärin - auch mit Härte gegen die Konkurrenz. Einen ehemaligen Geschäftspartner verurteilte ein Gericht in den USA 2006 wegen Geldwäsche.
Timoschenko sitzt derzeit wegen "Staatsverbrechen" für sieben Jahre im Gefängnis. Sie soll 2009 bei den Gaslieferungen aus Russland zu hohe Preise ausgehandelt haben, ohne Einbindung der Regierung. Die Ukraine zahlt 20 Prozent mehr als westliche Länder. Ein weiterer Prozess wegen mutmaßlicher Steuerhinterziehung gegen die Oppositionelle ist gestern vertagt worden. Bis nach der Europameisterschaft.
Timoschenko ist nur die Symbolfigur einer systematischen Verfolgung von politischen Gegnern durch die Justiz. Mehrere hohe Mitglieder, auch Minister der einstigen Timoschenko-Regierung sind in Haft, verurteilt wegen Steuerhinterziehung, Amtsmissbrauch oder Bestechlichkeit. Sie und Timoschenko sind jedoch keine politischen Gefangenen. Wer den Worten der Diplomatie genau zuhört, erkennt den Unterschied, den auch die Bundesregierung zwischen Staaten wie Aserbaidschan oder Weißrussland und der Ukraine sieht. Das Auswärtige Amt spricht im Fall Ukraine von "politisch instrumentalisierter Justiz". Angehörigen der Opposition wird kein fairer Prozess gemacht: Systematisch werden sie verurteilt, oftmals auch wegen Delikten, die keine internationalen Straftatbestände seien, wie Jovanka Worner von Amnesty International (AI) dem Hamburger Abendblatt sagt. Doch auch Amnesty sind keine Fälle von Inhaftierung politischer Gefangener bekannt - also Menschen, die allein aufgrund der Zugehörigkeit zu einer Partei oder ihrer Ansichten verurteilt worden sind.
Allerdings liegen der Menschenrechtsorganisation Berichte über Misshandlungen und Folter in Gefängnissen vor. Auch im Fall Timoschenko wird der ukrainischen Regierung vorgeworfen, sie dulde Folter gegen die Oppositionspolitikerin auch dadurch, dass man ihr keine ausreichende medizinische Hilfe während der Haft bewillige.
Der Protest gegen Timoschenkos Inhaftierung wird auch während der EM nur von einer relativ kleinen Gruppe getragen. Viele Menschen sind von der Orangenen Revolution enttäuscht. Nachdem Timoschenko 2007 erneut Ministerpräsidentin wurde, griffen die Reformen nicht. Die Finanzkrise führte zum Einbruch der Wirtschaft. Mit ihrem einstigen Gefährten Viktor Juschtschenko hatte sie sich unversöhnlich zerstritten. 2010 verlor sie die Präsidentenwahl. Gegen Janukowitsch.
Dass es unter einer Präsidentin Timoschenko Wahlfälschungen oder eine Einschränkung der Meinungsfreiheit gegeben hätte, schließen Kenner der Ukraine aus. Timoschenko war an der EU orientiert, traf sich mit den europäischen Staatschefs. Bei allem Machtkampf zwischen Timoschenko und Janukowitsch - die Probleme in dem Land liegen tiefer. Nach Schätzungen der Ukrainian Helsinki Human Rights Union in Kiew sind etwa 100 000 Menschen pro Jahr Opfer von Amtsmissbrauch - bis hin zur Folter. Worner von Amnesty schildert, wie der Student Ihor Indilo 2010 tot in der Zelle einer Kiewer Polizeistation gefunden wurde. Offiziell hieß es: ein Unfall. Aber die Obduktion ergab, dass er Verletzungen am Kopf und innere Blutungen hatte, die von einem stumpfen Gegenstand stammen. Leider aber gebe es kaum Strafverfolgung von Polizisten, geschweige denn Verurteilungen von Beamten. Auch der Fall Indilo sei bis heute ungeklärt. Der Westen erfährt von seinem Schicksal auch in den Wochen der EM kaum etwas. Trotz der Bilder aus der Zelle von Timoschenko. Vielleicht auch gerade wegen dieser Macht der Bilder.