Hamburger Politikwissenschaftler warnt, die Entwicklungen überzubewerten. “Man muss diese Tatsache in die allgemeine politische Lage einbetten.“
Kairo/Hamburg. Die Proteste in Ägypten bleiben gewalttätig: Ein wütender Mob hat am Freitag ein Gebäude der Steuerbehörde in Kairo gestürmt. Zudem belagerten Demonstranten den zweiten Tag in Folge das Innenministerium. Aus Sicht der Protestler soll die Behörde für den Tod von 74 Menschen im Stadion von Port Said verantwortlich sein. Nach Angaben aus Sicherheitskreisen flogen Brandbomben auf die Steuerbehörde. Möbel und Akten seien von den Eindringlingen zerstört worden, hieß es. Die Polizei habe Instruktionen erhalten, im Umgang mit den Randalierern zurückhaltend zu sein. Daran hätten sich die Beamten auch gehalten, obwohl bei den jüngsten Unruhen 138 Polizisten verletzt worden seien. Das Gebäude der Steuerbehörde liegt in der Nähe des Innenministeriums, vor dem die Polizei am Freitag wütende Demonstranten zurückdrängte, die mit Steinen warfen. Bundesaußenminister Westerwelle fordert derweil Konsequenzen aus den Fußballkrawallen.
+++Generäle im Zwielicht+++
Der Hamburger Politikwissenschaftler Henner Fürtig warnt davor, die derzeitige Lage zu früh zu bewerten. "Es ist sehr schwer, eine wissenschaftlich seriöse Verbindung zwischen der aktuellen Lage in Ägypten und den Ausschreitungen während des Fußballspiels in Port Said herzustellen, weil deren Gründe noch komplett ungeklärt sind", sagt der Experte. "Wenn man sich das gesamte letzte Jahr anschaut, dann hat Ägypten eine sehr positive Entwicklung hinter sich. Nach über 50 Jahren Diktatur wurde jetzt das erste Parlament frei gewählt, die Wirtschaft hält sich. Das ist wirklich ein bahnbrechender Umbruch gewesen." Dennoch betont Fürtig, dass nicht in Abrede gestellt werden soll, dass es ein schrecklicher Zwischenfall im Fußballstadtion in Port Said gewesen sei. Man müsse diese Tatsache jedoch in die allgemeine politische Lage einbette.
+++"Ein böser Flaschengeist hat das Land in seiner Macht"+++
Für das Wochenende haben revolutionäre Jugendgruppen unter dem Motto „Freitag des Zorns“ zu Massenprotesten gegen den regierenden Militärrat aufgerufen. Vor dem belagerten Innenministerium kam es immer wieder zu gewaltsamen Auseinandersetzungen. Tausende Demonstranten warfen Steine auf das Gebäude im Stadtzentrum. Die Polizei setzte Tränengas gegen die Protestierer ein, die sich immer wieder neu gruppierten. Bis Freitagmorgen hatte ein harter Kern der Demonstranten eine Betonbarriere beiseite geräumt und sich dem Ministerium genähert. Ein Reuters-Journalist vernahm Schüsse und sah Patronenhülsen. „Wir bleiben, bis wir unsere Rechte bekommen“, verkündete ein 22-jähriger, der sich nach der Arbeit am Donnerstag den Demonstranten angeschlossen hatte. Auf dem Tahrir-Platz harrten Hunderte Menschen die Nacht aus. Bange 45 Minuten durchlebten Bereitschaftspolizisten, deren Wagen versehentlich in eine Straße voller Demonstranten gefahren war. Eine drei Viertel Stunde lang wurde das Fahrzeug mit Steinen beworfen, ehe es mit Hilfe eines Krankenwagens und von Demonstranten, die eine Menschenkette gebildet hatte, wegfahren konnte. Ein Mensch starb in Kairo an den Folgen einer Schrotkugelverletzung.
+++Bürgerkrieg im Fußballstadion+++
Auch in der rund 140 Kilometer entfernten Stadt Suez, wo in der Nacht zwei Menschen bei Protesten ums Leben kamen, gab es erneut Krawalle. Nach Angaben der Zeitung „Al-Ahram“ wurden bei Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften mindestens 15 Menschen verletzt. Die Polizei setzte Tränengas ein, als Protestgruppen sich Gebäuden von Regierung und Sicherheitsbehörden näherten. An mehreren Orten sei Feuer ausgebrochen. Die Menge habe versucht, das Polizeirevier zu stürmen. Augenzeugen zufolge schoss die Polizei scharf.
Ausgelöst hatten die Proteste Krawalle in einem Fußballstadion in der Hafenstadt Port Said, bei denen am Mittwochabend 74 Menschen getötet und etwa 1000 verletzt wurden. Zwar gab der von den Streitkräften ernannte Ministerpräsident Kamal al-Gansuri erste personelle Konsequenzen gegen Sicherheitsverantwortliche bekannt. Zur Enttäuschung vieler verärgerter Parlamentarier entließ die Regierung den Innenminister jedoch nicht. Die Demonstranten werfen dem herrschenden Militärrat vor, er wolle trotz gegenteiliger Versicherungen die Macht nicht an eine gewählte Regierung abgeben.
Bundesaußenminister Guido Westerwelle (FDP) fordert von dem ägyptischen Militärrat Konsequenzen aus den blutigen Krawallen in Port Said. Westerwelle sagte am Freitag in München, er sei „bestürzt über die vielen Opfer“. Er fügte hinzu: „Wir rufen in aller Form Ägypten dazu auf, die Umstände und die Hintergründe dieser Welle von Gewalt aufzuklären und auch die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.“ Westerwelle mahnte zugleich, die Demokratisierung des Landes dürfe nicht infrage gestellt werden. Es sei „ganz entscheidend, dass der Fahrplan für die Übergabe der Verantwortung an zivile Stellen im vollem Umfange eingehalten wird“. Der Außenminister betonte, er sei „besorgt über die Entwicklungen, die mit dem heftigen Ausbruch von Gewalt in Ägypten einhergehen“.
Zwei US-Touristinnen in Ägypten entführt
Am Freitag sind Sicherheitskreisen zufolge zwei Touristinnen aus den USA auf der ägyptischen Halbinsel Sinai entführt worden. Die beiden Frauen seien mit einer Reisegruppe vom Katharinenkloster im Landesinneren auf dem Weg zum Badeort Scharm el Scheich am Roten Meer gewesen, als am Freitag Bewaffnete ihren Kleinbus angehalten hätten, hieß es in den Kreisen. Die Täter hätten die Reisenden zunächst ausgeraubt, dann aber offenbar spontan auch noch die zwei Frauen in ihre Gewalt gebracht. In einem Fahrzeug seien sie mit ihren Opfern in die Berge geflüchtet. Polizei und Armee seien auf der Suche nach ihnen. Vermutlich gehe es den Entführern darum, Lösegeld zu erpressen.
Die Meeresküste entlang der Südspitze des Sinai ist eine beliebte Touristenregion. Die Sicherheitslage in dem Gebiet hat sich allerdings seit dem Sturz von Präsident Husni Mubarak vor fast einem Jahr erheblich verschlechtert. So hielten im vergangenen Monat Beduinen 50 deutsche und britische Touristen über mehrere Stunden hinweg fest. Der Bus der Reisenden hatte versehentlich eine Straßensperre umfahren, die die Beduinen aus Protest gegen den Gouverneur von Süd-Sinai errichtet hatten.
Mit Material von dpa/rtr/dapd