Die Militäraktion im Mittelmeer wird für Israel zum diplomatischen Fiasko - Türkei zieht Botschafter ab, Merkel fordert schnellstmögliche Aufklärung
Jerusalem. Einen derartigen Medienauflauf hat der Hafen der sonst eher beschaulichen Stadt Aschdod wohl noch nie erlebt. Kamerateams treten sich gegenseitig auf die Füße, überall huschen aufgeregte Journalisten umher und warten darauf, dass die von der israelischen Armee aufgebrachten sechs Schiffe der "Friedensflotte" in Aschdod einlaufen. Weil es nicht sehr viele verlässliche Informationen über das gibt, was sich am Montagmorgen an Bord des türkischen Schiffes "Mavi Marmara" ereignet hat, tauschen alle die neuesten Gerüchte aus. Sicher ist: Bei der Erstürmung des Schiffes durch Elitesoldaten der Einheit Schajett 13 wurden nach israelischen Angaben mindestens neun Menschen an Bord getötet und etwa 50 Personen verletzt.
Noch in der Nacht hatte das israelische Fernsehen live übertragen, wie die Besatzung von der Marine aufgefordert worden war, ihre Fahrt abzubrechen, weil der Gazastreifen unter israelischer Blockade stehe. Doch weder die "Mavi Marmara" noch die anderen fünf Schiffe des Konvois von muslimischen Aktivisten, westlichen Politikern und Vertretern von Menschrechtsorganisationen kamen der Aufforderung nach. Beladen mit 10 000 Tonnen Hilfsgütern und 700 Menschen - unter ihnen der schwedische Bestsellerautor Henning Mankell - hielten sie Kurs und wurden gegen 4.30 Uhr etwa 65 Kilometer vor der Küste aufgebracht. Über Strickleitern enterten die Soldaten von ihren Booten und Hubschraubern aus das Schiff.
Die israelische Version der Ereignisse verbreiten Armee- und Regierungssprecher im Hafen von Aschdod reihenweise. Danach sei jeder einzelne Soldat am unteren Ende der Strickleiter von einer wütenden Menge mit Eisenstangen, Holzknüppeln und Messern empfangen worden. Die Armeesprecher versichern, dass trotz der brutalen Schläge, die die Männer einstecken mussten, zunächst keine Schusswaffen gebraucht wurden. Erst als die Aktivisten auf dem Schiff einem Soldaten das Gewehr entrissen und den Soldat von der Brücke auf das acht Meter tiefer liegende Deck warfen, baten sie um Erlaubnis, das Feuer eröffnen zu dürfen.
Zu dem Zeitpunkt sei deutlich gewesen, dass einige der Passagiere über Schusswaffen verfügten hätten und bereit gewesen seien, sie einzusetzen. Den israelischen Einheiten sei nichts anderes übrig geblieben, als in Notwehr zu schießen. Erst nach einer halben Stunde erbitterter Kämpfe hätten die Soldaten die Brücke unter ihre Kontrolle gebracht.
Die Organisatoren der "Friedensflotte" hingegen behaupten, die "Mavi Marmara" hätte schon vor Beginn der Aktion die weiße Flagge gehisst. Die Soldaten hätten trotzdem sofort nach ihrer Landung an Bord das Feuer eröffnet, war auf dem Online-Kurznachrichtendienst Twitter zu lesen. Allerdings wollte eine Sprecherin der Organisation Free Gaza sich nicht darauf festlegen, dass es an Bord des Schiffes keine Waffen gegeben habe. Sie halte das aber zumindest "für äußerst unwahrscheinlich", sagte Audrey Bomse der Zeitung "Die Welt".
Dabei ist es vielleicht kein Zufall, dass es auf der "Mavi Marmara" zu einem Blutbad kam, während die weiteren fünf zur "Friedensflotte" gehörenden Schiffe von israelischen Truppen ohne Zwischenfälle aufgebracht wurden. Die "Mavi Marmara" befand sich nämlich unter dem Kommando der IHH, einer türkischen Wohltätigkeitsorganisation mit Verbindungen zu verschiedenen islamistischen Organisationen. Das "Danish Institute for International Studies" hat der IHH nicht nur Verbindungen zur Hamas, sondern auch zu al-Qaida und anderen Organisationen nachgewiesen, die der globalen Dschihad-Bewegung nahestehen. Auch hat der Chef der Organisation, Bülent Yilderim, jüngst in einer Rede Israel als "zionistisches Gebilde" bezeichnet und erklärt, das Ziel der IHH sei es, "Israel und die israelische Armee zu blamieren und der Hamas und ihrer Regierung im Gazastreifen zu helfen". Bei der Verabschiedung des Schiffes in Istanbul in der vergangenen Woche waren dann auch zwei hochrangige Hamas-Mitglieder und ein Führer der jordanischen Muslimbruderschaft anwesend.
Doch auch wenn die Schuldfrage noch ihrer Klärung harrt, für Israel wächst der tragische Vorfall sich schon jetzt zu einem diplomatischen Fiasko aus. Die Türkei zog ihren Botschafter ab, weitere arabische Länder kündigten ähnliche Maßnahmen an. Spanien, Schweden und Griechenland bestellten die israelischen Botschafter ein. Die EU forderte eine umfassende Untersuchung der Vorgänge. Bundeskanzlerin Merkel verlangte in einem Telefonat mit Israels Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu "schnellstmögliche Aufklärung" des Vorfalls. Zudem sagte sie: "Es stellt sich die dringende Frage der Verhältnismäßigkeit." Der Uno-Sicherheitsrat kam zu einer Sondersitzung zusammen. Palästinenserpräsident Mahmud Abbas sprach von einem "Massaker" und ordnete Staatstrauer im Gazastreifen an - wo er seit der Machtübernahme der Hamas im Juni 2007 allerdings nichts mehr zu sagen hat.
Israels Verteidigungsminister Ehud Barak äußerte zwar Bedauern für die Opfer, bestand aber darauf, dass "die Organisatoren und die Teilnehmer die alleinige Verantwortung" trügen. Bei einer Pressekonferenz mit Armeechef Gabi Aschkenasi und dem Kommandeur der Marine, Elieser Marom, sagte Barak, dass bei der Aktion mehrere Soldaten verletzt worden seien. Ein Soldat habe schwere Kopfverletzungen erlitten, zwei seien von Gewehrkugeln verletzt worden, einer habe eine Stichwunde erlitten. Während Vize-Admiral Marom die Zurückhaltung seiner Truppen lobte, sah Generalstabschef Aschkenasi auch Anlass zur Selbstkritik: Die Soldaten hätten zwar allerlei Szenarien geübt, seien aber unzureichend mit Hilfsmitteln zur Zerstreuung von Menschenmengen ausgestattet gewesen.
Nach dem Zwischenfall wird es für Israel nun wohl besonders schwierig, an der seit drei Jahren andauernden Blockade des Gazastreifens festzuhalten. Israel hatte nach der Machtübernahme der Hamas die Grenzen abgeriegelt, um die Position der Islamisten in der Bevölkerung zu schwächen. Wenn nur noch das Allernötigste nach Gaza komme, würde die unzufriedene Bevölkerung sich irgendwann gegen die Hamas richten, so das Kalkül. Doch bisher ist es nicht aufgegangen: Die Hamas mag in Gaza an Beliebtheit eingebüßt haben, sie sitzt aber fest im Sattel. Derweil verhindert die Blockade jede wirtschaftliche Entwicklung: Weil Baumaterial nur selten nach Gaza gelassen wird, sind bislang nur 25 Prozent der Kriegsschäden behoben. Es mag völkerrechtlich legitim sein, wenn Israel auf die Raketenangriffe aus Gaza mit einer Blockade reagiert. Nur scheint das international immer schwerer zu vermitteln zu sein.