Im Vorfeld der geplanten Großoffensive auf Kandahar in Afghanistan setzen sowohl Taliban als auch US-Truppen Killerkommandos ein.
Hamburg/New York. Es soll die große Entscheidungsschlacht im fast zehnjährigen Krieg in Afghanistan und die Bewährungsprobe für die neue Strategie von US-Präsident Barack Obama werden - die alliierte Großoffensive gegen die Taliban-Hochburg Kandahar im Süden des zerklüfteten Landes. Zahlreiche Einheiten der US-Truppen und ihrer Verbündeten haben bereits strategische Ausgangspositionen bezogen. Mit dem Beginn der Offensive wird in den kommenden Wochen gerechnet.
Im Februar hatte es dafür einen ersten Testlauf gegeben: die Großoffensive gegen den Distrikt Mardscha nordwestlich von Kandahar in der Provinz Helmand. 15.000 amerikanische, kanadische, britische und afghanische Soldaten waren in der "Operation Mushtarak" (Operation "Gemeinsam") an8getreten, um die Taliban endlich von dort zu vertreiben. Es schien auch gelungen zu sein - nach erbitterten Kämpfen waren die Taliban abgezogen. Doch inzwischen müssen die US-Truppen feststellen, dass ihre Strategie nicht so aufgeht wie geplant.
Mardscha war schon häufig im Verlaufe des Krieges erobert - und bald wieder an die Radikalislamisten verloren worden. Den Alliierten stehen einfach nicht genug Truppen zur Verfügung, um jedes eroberte Gebiet dauerhaft zu halten. Deshalb stellte die US-Regierung diesmal riesige Summen bereit, um die Bewohner von Mardscha zur Kooperation zu bewegen - Hunderttausende Dollar pro Woche.
Doch die Taliban haben diese zunächst erfolgreiche Strategie brutal gekontert. Wie die "New York Times" berichtete, haben Killerkommandos der Taliban damit begonnen, jene Afghanen zu töten oder halb tot zu schlagen, die mit den US-Truppen kooperieren. Ein Stammesältester sagt: "Jeden Tag hören wir, dass sie Leute umbringen, und wir finden deren Leichen. Die Taliban sind überall." Im Norden Mardschas wurde ein prominenter Taliban-Kritiker ermordet - was eine Massenflucht seiner Anhänger auslöste. Ein anderer Mann, der in Mardscha verantwortlich war für das von den Amerikanern gesponserte Arbeitsbeschaffungsprogramm, wurde derart zusammengeschlagen, dass das Programm nun "total tot" ist, wie ein US-Major einräumte.
Ein weiteres Problem kommt hinzu: Die Taliban bewegen sich unerkannt in der Bevölkerung - aus der sie ja schließlich stammen - und lassen sich ebenfalls die amerikanischen Hilfsgelder auszahlen. "Du schüttelst ihnen die Hand, aber weißt nicht, dass es Taliban sind", sagte der afghanische Polizeikommandeur Oberst Ghulam Sakhi. "Und sie setzen das Geld gegen die Marines ein - sie kaufen dafür Sprengfallen, Munition und alles Mögliche". Major James Coffmann von den US-Ma8rines sagte, in den Wochen seit der "Operation Mushtarak" hätten die Taliban in vielerlei Hinsicht Kontrolle und Initiative in Mardscha zurückerlangt. "Wir müssen unsere Taktik ändern, um die hier lebenden Menschen wieder auf unsere Seite zu ziehen. Die Taliban haben die Leute vollkommen gelähmt."
Der stellvertretende Nationale Sicherheitsberater der afghanischen Regierung, Shaida Abdali, sagte warnend: "Wenn man für die Operationen in Kandahar plant, muss man erst einmal Erfolge in Mardscha vorweisen können." Mit einer ebenso brachialen Taktik versuchen die US-Streitkräfte nun, im Vorfeld der Kandahar-Offensive eine ähnliche Entwicklung zu verhindern. Ihre Sorge ist berechtigt: Auch dort senden die Taliban mit immer mehr Bombenanschlägen und Attentaten ein klares Signal an alle, die bereit sein sollten, mit den Alliierten zusammenzuarbeiten.
Am vergangenen Montag wurde der pro-amerikanische Vizebürgermeister der Stadt Kandahar, Azizullah Jarmal, beim Beten in der Moschee erschossen, gerade, als er den Kopf zu Erde neigte. Er galt als der meistrespektierte Beamte in der ganzen Provinz. Taliban-Sprecher Qari Yousef Ahmadi sagte dazu, Jarmal habe für die "Marionettenregierung" gearbeitet". Alle, die für diese Regierung arbeiteten, würden getötet werden. Für die Bevölkerung stellt die Nähe der US-Truppen damit eine tödliche Gefahr dar - eine totale Umkehrung der amerikanischen Absichten.
In einer Erhebung unter 2000 Bewohnern der Provinz Kandahar ermittelte die US-Armee, dass die Afghanen sich in einem Verhältnis von 19 zu eins für Verhandlungen mit den Taliban und gegen Kampfhandlungen aussprachen. Fünf von sechs Afghanen bezeichneten die Taliban als "unsere Brüder". Die Studie zeigte auch, dass die Taliban in fünf der neun Distrikte von Kandahar mehr Macht besässen als die Regierung.
Nun durchstreifen Jagdkommandos amerikanischer Eliteeinheiten die Gegend, um Taliban-Führer auszuschalten. "Eine große Zahl führender Aufständischer in und um Kandahar ist bereits getötet oder gefangen worden", sagte ein hoher US-Offizier der "New York Times". Dennoch sei dies weiterhin ein "umkämpftes Schlachtfeld". Die Eröffnungssalven der Offensive auf Kandahar würden derzeit "im Schatten" abgegeben, schrieb das US-Blatt. Aber auch im deutschen Zuständigkeitsbereich Kundus sind die Taliban jetzt im Fadenkreuz: Bei einem US-Präzisionsluftangriff wurde der gerade erst eingesetzte "Schatten-Gouverneur" Mullah Yar Mohammed getötet.