US-Präsident Barack Obama bleibt seiner Politik auch zu den Fragen zur Abrüstung treu: Den einen geht er zu weit - den anderen nicht weit genug.
Washington. US-Präsident Barack Obama hat eine neue militärische Nuklearstrategie, und es ist wie so häufig bei seiner Politik: Den einen geht sie nicht weit genug, den anderen geht sie zu weit. Tatsächlich spiegelt das Papier einen sorgfältigen und klugen Balanceakt wider. Obama hat die Vision von einer atomwaffenfreien Welt, aber er weiß auch, dass es bis dahin noch ein weiter Weg ist. Vor allem aber ist er sich darüber im Klaren, dass es in Washington eine „Atomelite“ gibt, Militärs und Konservative, die sich auch Jahrzehnte nach dem Ende des Kalten Krieges ein Verteidigungskonzept ohne Nuklearelemente schlicht nicht vorstellen können. Und es gibt einen Kongress, der ihm bei der anstehenden Ratifizierung des START-Vertrages Knüppel zwischen die Füße werfen könnte.
Das Ergebnis ist eine Nuklearstrategie, die sehr wohl von der Linie seines Vorgängers George W. Bush abweicht, aber wiederum nicht so radikal, dass sich Skeptiker nun wehrlos einem Angreifer ausgesetzt fühlen könnten. „Es ist ein Status-quo-Dokument, in jeder Hinsicht“, beklagt etwa Bruce Blair vom World Security Institute, das für Abrüstung eintritt. „Nimmt er Amerika die Waffen weg?“ heißt es umgekehrt in Riesenlettern auf der Webseite des konservativen Drudge-Reports.
Die Wahrheit liegt in der Mitte. So engt Obama die Nuklearoption ein und weitet die Rolle des konventionellen Arsenals aus. Wer sich an internationale Verträge zur Nichtweiterverbreitung von Atomwaffen hält, wird bei einem etwaigen Angriff mit konventionellen oder biochemischem Waffen mit den gleichen Mitteln bekämpft.
Damit gibt Obama die Option eines atomaren Ersteinsatzes nicht gänzlich auf, und es ist ganz klar, auf wen diese Strategie hauptsächlich abzielt: den Iran. Teheran soll sich im Fall von etwaigen Angriffsgedanken nicht sicher fühlen, dass ihm ein nuklearer Präventivschlag der USA erspart bleibt. Auch das zielt natürlich zum Teil auf Falken im eigenen Land ab, die glauben, dass der Friedensnobelpreisträger Obama in einem Wolkenkuckucksheim lebt, ein militärisches Weichei ist und reale Bedrohungen nicht kapiert.
Mit der Einschränkung der Nukleardoktrin verlagert Obama zugleich den Schwerpunkt auf sein Hauptanliegen: die Nichtweiterverbreitung von Waffen. Das Versprechen, keine Nukleargewalt gegen atomwaffenfreie Staaten einzusetzen, solle Staaten „enger an die Ziele“ des UN-Vertrags binden, so Obama in der „New York Times“, während „Außenseiter“ wie der Iran oder auch Nordkorea ein Signal erhielten.
Natürlich sagt auch das Timing etwas aus. Die Veröffentlichung des Strategie-Papiers sollte schon vor Monaten erfolgen, aber interne Auseinandersetzungen verzögerten den Schritt immer wieder. Auch hier war in den Augen der einen das Glas halb voll, in den Augen der anderen halb leer. Der produzierte Kompromiss wurde nun gezielt vor der Unterzeichnung des START-Abkommens an diesem Donnerstag in Prag publik gemacht. Das heißt, auch Russland soll vor dem großen Tag schwarz auf weiß sehen, wie der militärische Rahmenplan der USA in den nächsten Jahren aussieht.
Und dieser setzt ganz klar auf weitere Abrüstungsvereinbarungen mit Moskau. Nach der Verringerung der strategischen Waffen will Obama das taktische Arsenal ins Visier nehmen, das auch viele in Europa als Relikt des Kalten Krieges loswerden wollen. Das aber erfordert weitaus kompliziertere Verifikationsmaßnahmen, da müsste sich auch Russland sehr, sehr genau in die eigenen Töpfe schauen lassen. Dazu bedarf es größeren gegenseitigen Vertrauens, und Obama hat auch das auf dem Tablett: Er will zwar weiterhin einige Atomwaffen für den Fall der Fälle unmittelbar einsatzbereit halten, aber mit Moskau an einem gemeinsamen Frühwarnsystem arbeiten, um die Gefahr irrtümlicher Raketenstarts zu beseitigen.
Das alles sind Mosaik-Steine, so auch der für Anfang kommender Woche geplante „Nuklear-Gipfel“ in Washington mit rund 40 Staats- und Regierungschefs. Da will der US-Präsident mit der internationalen Gemeinschaft an besseren Mechanismen arbeiten, damit spaltbares Material nicht in die Hände von Extremisten und Terroristen fällt. Eine gänzlich atomwaffenfreie Welt, so sagte Obama kürzlich, werde es wahrscheinlich zu seinen Lebzeiten nicht geben, aber – das werden ihm auch ungeduldige Liberale nicht absprechen: Obama arbeitet daran, Schritt für Schritt, und mit der nötigen Portion Pragmatismus.