Hamburg. Vollmitgliedschaft in der EU oder "privilegierte Partnerschaft", Westen oder Osten - das Ringen um die außenpolitische Orientierung und Verankerung der Türkei ist in vollem Gange. Es findet vor dem Hintergrund einer prallen Geschichte statt: Hunderte von Jahren lang beherrschte das Osmanische Reich weite Teile Südosteuropas, Nordafrikas, den Nahen Osten mit Palästina und dem heutigen Israel sowie Mesopotamien.
Wann immer die Türkei - nach dem Ersten Weltkrieg gebildet aus der Konkursmasse des Osmanischen Reiches - sich heute außenpolitisch positioniert, spielt die Historie dabei eine erhebliche Rolle. Lange wurde die Türkei in diesen Ländern, gerade im nahöstlich-arabischen Raum, noch immer als koloniale Besatzungsmacht wahrgenommen - sehr zum Nachteil einer türkischen Akzeptanz. Doch das hat sich geändert.
"Das Ansehen der Türkei dort hat sich in den vergangenen 15 bis 20 Jahren erheblich verbessert", sagt der Politologe und Türkei-Experte Cemal Karakas von der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung. Und das liege ausgerechnet an Recep Tayyip Erdogan - dem im Westen nicht unumstrittenen Regierungschef. Denn der Vorsitzende der nationalreligiösen Partei AKP betone im Gegensatz zu seinen kemalistischen Vorgängern - also Anhängern des Staatsgründers Kemal Atatürk - nicht das nationalistische Element, sondern beschwöre eher die Umma, die Gemeinschaft der gläubigen Muslime. "Erdogan fährt die Betonung des Türkentums stark zurück; die ethno-nationale Komponente spielt in seiner Außenpolitik kaum eine Rolle."
Generell orientierten sich die Leitlinien der türkischen Außenpolitik an der neuen strategischen Doktrin namens "Strategische Tiefe". Sie wurde vor rund fünf Jahren entwickelt vom jetzigen Außenminister Ahmet Davut-Oglu, damals noch Professor für Internationale Beziehungen. Sie formuliert das Ziel, zwar weiterhin am EU-Beitritt festzuhalten, zugleich aber die Türkei im Nahen Osten als regionale Ordnungsmacht zu positionieren. In diesem Kontext sei in jüngster Zeit eine Annäherung sowohl an Russland als auch an Armenien erfolgt, sagt Karakas. "Schwieriger ist, dass es auch zu einer Annäherung an Syrien und den Iran gekommen ist - da beide in den Augen der USA Schurkenstaaten sind. Das stellt vor allem die USA vor Probleme."
Der wesentliche Unterschied zwischen der heutigen türkischen Außenpolitik und jener des Kalten Krieges sei aber, dass Ankara heute eigene nationale Interessen verfolge. "Das eröffnet neue Perspektiven für die Türkei - aber die türkischen nationalen Interessen entsprechen nicht unbedingt denen der USA", sagt der Politologe. Er erwähnt in diesem Zusammenhang auch den seit Jahren wachsenden Antiamerikanismus in der Türkei.
Ein weiteres Element in der Reorganisation der türkischen Außenpolitik sei die zunehmende Entfremdung zum Rüstungspartner Israel. Sie resultiere darin, dass die Türkei ihren Einfluss auf den Nahen Osten sehr stark überschätzt habe und mehrfach brüskiert worden sei.
Erdogan gefalle sich in der Rolle des starken Mannes, der dem Westen - der EU, den USA und Israel - die Stirn biete. "Dieses Kalkül geht auf - in der arabischen Welt ist die Türkei so angesehen wie noch nie in ihrer Geschichte." Dabei wolle Erdogan den EU-Beitritt ernsthaft. Dass die türkische Außenpolitik gerade bezüglich eines EU-Beitritts politisiert werde, sei vor allem Schuld der Nationalisten und des Militärs. Diese fragten sich, wohin der Beitritt die Türkei führe, wenn dann etwa Kurden und religiöse Minderheiten wie die Christen - womöglich gar die Islamisten - mehr Recht erhalten müssten. "Man hat Angst um die gesellschaftliche und territoriale Integrität der Türkei", sagt Cemal Karakas. "Das ist eine Angst, die Kemalisten sehr stark schüren. Und Erdogan wird manchmal von den Kemalisten getrieben - zum Beispiel in der Zypernfrage."
Trotz aller gelegentlichen Spannungen bleibt Deutschland eine feste Größe in der türkischen Außenpolitik, nicht nur wegen der drei Millionen Türken, die hier leben. Erdogan setzt vor allem auf den Ausbau der wirtschaftlichen Zusammenarbeit. Deutschland sei natürlicher Partner der Türkei, sagte Erdogan bei einem deutsch-türkischen Wirtschaftsforum. Seine Land wolle eine strategische Kooperation.