Ein Video bringt die britische Polizei in Erklärungsnot. Der Mann, der an einem Herzinfarkt gestorben sein soll, wurde vorher von Beamten attackiert. Er war kein Demonstrant, sondern ein Kiosk-Verkäufer. Der Polizist stellte sich jetzt.
London. Als Ian Tomlinson vor einer Woche im Londoner Bankenviertel starb, während um ihn Tausende Menschen gegen den G20-Gipfel protestierten, deutete alles auf einen tragischen Unfall hin.
Doch nun ist die Londoner Polizei in Erklärungsnot: Am Mittwoch tauchte ein Video auf, das zeigt, wie bewaffnete Polizisten den 47-Jährigen schlagen und zu Boden werfen wenige Minuten später ist Tomlinson tot.
Die Frage steht jetzt im Raum, ob Scotland Yard bei den G20-Protesten nicht zu hart durchgegriffen hat. Und was hatte der Angriff mit dem Tod des Mannes zu tun? Für Londons Polizei ist das die erste große Krise seit dem Antritt des neuen Chefs. Der Fall könnte ein unangenehmes juristisches Nachspiel haben.
Video: Toter bei G20 - Gipfel: Polizist stieß ihn zu Boden
Tomlinson, ein Zeitungsverkäufer in der City, war auf dem Heimweg, als er vergangenen Mittwoch nahe der Bank of England kollabierte. Zeitgleich protestierten Gipfelgegner lautstark gegen das Weltfinanzsystem. Dass es dabei auch zu Krawallen kam, erklärt wie angespannt die Lage bei der Polizei war.
Doch eine Obduktion ergab, dass Tomlinson an einem Herzinfarkt gestorben war, also kein Fremdverschulden. Bei Scotland Yard hieß es, man habe mit demMann vor seinem Tod keinerlei Kontakt gehabt.
Das Video zeigt nun das Gegenteil: Tomlinson geht vor einer Reihe Polizisten mit Hunden, die Hände in den Hosentaschen, den Rücken zu den Beamten. Später schlägt ihm einer der Polizisten mit einem Schlagstock in die Beine und stößt ihn mit beiden Händen zu Boden. Gewehrt hatte er sich nicht.
Tomlinson schlägt hart auf, diskutiert offenbar mit den Polizisten und steht auf. Das Video endet. Wenige Minuten später bricht der Familienvater zusammen. An den Protesten hatte er sich nach Angaben seiner Familie nicht beteiligt.
Der zunächst nicht identifizierte Polizist hat sich gestellt. Der Beamte solle nun schnellstmöglich befragt werden, wie ein Sprecher der Polizeiaufsichtsbehörde mitteilte.
Zweifel an der Polizeiversion ließen schon kurz nach dem Vorfall Zeugenaussagen aufkommen. Mehrere Demonstranten erklärten, dass die Polizei den Mann angegriffen hatte doch das Beweismaterial dazu fehlte. Nachdem das Video nun publik wurde, steht die Polizei in der Kritik, den Fall vertuschen zu wollen. Vorwürfe wurden auch gegen die unabhängige Polizeiaufsichtsbehörde laut, die ihre Untersuchungen angeblich nur schleppend ausführte.
"Widerlich und grundlos" nannte der Justizsprecher der oppositionellen Liberaldemokraten, David Howarth, den Angriff und forderte strafrechtliche Ermittlungen.
"Alarmierend" sei das Video und werfe "große Fragen" auf, sagte der Schatten-Innenminister der Konservativen, Chris Grayling. Innenministerin Jacqui Smith rief die Polizeiaufsichtsbehörde derweil auf, die neuen Beweismittel "so schnell wie möglich" zu prüfen, Ermittlungen gegen Scotland Yard könnten folgen, so die Ministerin.
"Bewaffnete Polizisten, die eine unschuldigen Unbeteiligten von hinten angreifen, stellen die gesamte Einstellung gegenüber Protesten bei der Polizei infrage", monierte Shami Chakrabarti von der Menschenrechtsorganisation Liberty.
Andere wendeten dagegen ein, dass die Polizei während der Krawalle stark unter Druck stand, Konfrontationen seien bei Protesten mit diesem Ausmaß "unvermeidbar", erklärte Peter Smyth vom Verband der Hauptstadtpolizei.
Sofort wurden auch wieder Erinnerungen an den wohl tragischsten Fehler der Londoner Polizei wach: 2005 hatte die Polizei nach den Terroranschlägen auf die Londoner U-Bahn einen unschuldigen Brasilianer erschossen, weil sie ihn für einen Attentäter hielt.
Diese Wunde ist immer noch nicht verheilt. Und so räumte der seit wenigen Monaten amtierende Scotland-Yard-Chef Paul Stephenson am Mittwoch eilig ein, dass das Video "große Sorge" hervorrufe. Die Polizei werde den Fall eingängig untersuchen.
Für die Hinterbliebenen kommen diese Versprechen zu spät, sie wollen "Antworten". "Wir haben jetzt gesehen, dass die Polizei mit Ian Kontakt hatte. Ob das etwas mit seinem Tod zu tun hat oder nicht, wissen wir nicht", sagte der Stiefsohn Paul King.
Aber, so fügte er hinzu: "Wir wollen um der Familie und der Kinder Willen Gerechtigkeit. Bis nicht alles ans Licht kommt und wir die Beweise haben, die wir brauchen, können wir unseren Vater nicht zur Ruhe legen."