Berlin. Gendern, Diversität, Wokeness: Im Wahlkampf will niemand etwas damit zu tun haben. Liegt das an der US-Wahl? Wissenschaftler ordnen ein.
Markus Söder bei seiner ersten Rede im Bundestag im November. Die Ampel war gerade zerbrochen, Olaf Scholz hatte seine Regierungserklärung hinter sich gebracht. Der CSU-Chef nutzte die Gelegenheit, um sich von allem abzugrenzen, was irgendwie grün und links ist. Deutschland müsse wieder „leistungsfähiger“ werden, sagte der bayerische Ministerpräsident und zählte auf, was er sich wünscht: „Weniger woke, weniger gendern, weniger divers, sondern vielleicht viel mehr Fleiß, Leistung und Pünktlichkeit, also Dinge, die eigentlich schon deutsche Tugenden sind.“
Robert Habeck, grüner Kanzlerkandidat und derzeit Söders größter Kontrahent, sitzt in diesen Tagen an Küchentischen seiner potenziellen Wählerinnen und Wähler. Schon seit Wochen versucht er, die Debatte ums Gendern von seiner Person wegzulenken. Er wolle diese „Bullshit“-Diskussionen nicht länger. Jeder könne doch reden, wie er wolle.
Was ist da los? War es das mit der Wokeness, mit der Rücksicht auf Minderheiten? Mit Genderstern, Glottisschlag, neuen Pronomen für non-binäre Menschen? Kommt jetzt das Indianer-Kostüm beim Kinder-Karneval zurück? Ist gar Schluss mit sogenannter Cancel Culture, die weißen Frauen und Männern mit Dreadlocks oder geflochtenen Zöpfen („Braids“) „kulturelle Aneignung“ vorwirft?
George Floyd: Nach seinem Tod kam es zu Ausschreitungen
Entstanden ist die Bewegung in den USA, wo seit Jahrzehnten Aktivisten für die Rechte von Minderheiten kämpfen. Nach dem 25. Mai 2020 erreichte die Welle ihren Höhepunkt. An dem Tag starb George Floyd bei seiner Festnahme. Ein Polizist kniete mit seinem vollen Körpergewicht mehr als neun Minuten lang auf den Hals des am Boden liegenden Afroamerikaners. George Floyd erstickte.
Was folgte, waren Proteste unter dem Motto „Black Lives Matter“, die sich von den USA in die westliche Welt ausbreiteten. Es kam zu Plünderungen, Ausschreitungen und, nachdem mehrere Menschen gestorben waren, auch zu Ausgangssperren – und weiterer Polizeigewalt.
Die Wokeness ging von der Harvad-Elite aus
Diese Unruhe erreichte schnell den akademischen Betrieb in den USA. An den Eliteuniversitäten – vor allem Harvard – entwickelte sich eine Bewegung, die wachsam sein will gegenüber Rassismus, Sexismus und sozialer Diskriminierung. Die auf Frauenrechte achtet, Minderheiten schützt und die binäre Aufteilung der Gesellschaft in männlich und weiblich auf den Kopf stellt.
Ein Unternehmen, in dem weiße Männer das Sagen haben, gilt auch in Deutschland aus der Zeit gefallen. Um die Identität von Frauen, trans, intersexuellen und non-binären Menschen zu kennzeichnen, bekommt die Sprache neue Pronomen, Sternchen und Sprachpausen.
Schließlich erreicht die Wokeness den öffentlich-rechtlichen Rundfunk mit dem Anchorman Klaus Kleber, der im „Heute Journal“ den Gendergap spricht. Kurz: Im November 2020, ein halbes Jahr nach dem Tod von George Floyd, erreicht der Kulturkampf den Höhepunkt.
Udo Lindenbergs „Oberindianer“ fiel der Cancel Culture doch nicht zum Opfer
Vier Jahre später ist von dieser Aufregung nicht mehr viel übrig. Markus Söder hat das Gendern an bayerischen Schulen schlicht verboten, viele Medien sind zum klassischen generischen Maskulinum zurückgekehrt, auch wenn sie nun öfter die weibliche Form nennen. Eine Art letztes Aufbäumen der linken Großstadtelite entstand in diesem Herbst um den Begriff „Oberindianer“ im Lied „Sonderzug nach Pankow“ von Udo Lindenberg. Ein Berliner Chor wollte den „Indianer“ nach dem „Ober“ zunächst durch ein langes I ersetzen, nahm dann aber nach heftigen Protesten Abstand.
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Für den Politikwissenschaftler Albrecht von Lucke ist diese Debatte um den „Oberindianer“ das beste Beispiel dafür, wie weit sich die „links-woke Elite“ vom klassischen Arbeitermilieu entfernt hat. „Dass bei diesem Kult-Song aus dem Jahr 1983 eine so hohe Messlatte angelegt werden sollte, ist eine Diskussion, die kein Mensch mehr versteht.“
Den Parteien empfiehlt er nun, „höllisch“ aufzupassen: „Die Konservativen machen Wokeness zum Kampfbegriff gegen die Linken und nutzen so deren Schwäche aus, sich verständlich zu machen.“ Diese Strategie beherrsche Markus Söder ebenso wie BSW-Chefin Sahra Wagenknecht oder auch der Entertainer Thomas Gottschalk, der in seinem Buch mit Genderkult, Diversität und Wokeness abrechnet. Aus einem berechtigten Gerechtigkeitsthema der Linken sei aufgrund einer Übersteigerung ein Kulturkampfthema von rechts geworden.
Von Lucke nennt dies einen kulturkonservativen Überbietungswettkampf. „Die größten Schnittmengen von BSW, AfD und CSU liegen im Kampf gegen Wokeness und Cancel Culture.“ Eine Belohnung bekämen alle, die sich als „Wahrsprecher“ profilierten „und sich – im AfD-Jargon gesprochen – gegen den rot-grün-versifften Mainstream wenden“.
Donald Trump steht für Anti-Wokeness – und hat damit Erfolg
Wie gut das funktioniert, hat sich bei der US-Wahl gezeigt. Obwohl das demokratische Team Harris/Biden versucht hat, sich von „wokeism“ und damit einer linken Identitätspolitik abzuwenden, wurde ihnen vom Team Trump genau diese in die Schuhe geschoben. Mit Erfolg: Die Demokraten konnten bei den wahlentscheidenden Themen Wirtschaft und Inflation nicht genug durchdringen, um den Wahlsieg von Donald Trump zu verhindern.
Was genau da passiert ist, hat der Schweizer Philosoph Andreas Brenner mit seinem Essay „Das Ende des Wokeismus“ analysiert. Wer in Harvard, wo die Bewegung herkomme, studiere, sei superprivilegiert. „Diese Leute unterstellen den weniger Privilegierten, dass sie nicht für sich selbst das Wort ergreifen können“, erklärt er dieser Redaktion. Das nütze niemandem. „Die Unterprivilegierten bekommen weiterhin keine Wohnung, werden weiterhin Opfer von Racial Profiling“ – würden also weiterhin von der Polizei in diskriminierender Weise aufgrund etwa ihrer Hautfarbe kontrolliert. Die Sprachpolitik überdecke den eigentlich guten Ansatz – die Bekämpfung der Diskriminierung.
Bei der kommenden Bundestagswahl wird sich zeigen, wie sich dieser Wettkampf auswirkt. CDU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz – laut Umfragen hat er beste Aussichten – hat schon mal angekündigt, welche „woke“ Gesetzesänderung er zurücknehmen will: Das neue Selbstbestimmungsrecht, mit dem trans und intersexuelle sowie non-binäre Menschen eigenverantwortlich auf dem Standesamt ihr Geschlecht und ihren Vornamen ändern können.
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Womöglich wird ein neuer Konservatismus auch in den Alltag vieler Unternehmen einziehen, wo Personalabteilungen seit einiger Zeit nicht nur auf das richtige Praktikum im Ausland achten, sondern auch Menschen mit Migrationshintergrund und/oder aus sozial schwachen Verhältnissen gezielt einstellen. Vor der US-Wahl sagte EY-Managerin und Aktivistin Natalya Nepomnyashcha dieser Redaktion, Diversität dürfe kein Marketinggag sein, kein Werbespruch mit Regenbogen-Logo. „Diversität bedeutet für ein Unternehmen auch, einen Change-Prozess hinsichtlich der Unternehmenskultur zu durchlaufen.“
In den USA dürfte diese diverse Unternehmenskultur bald in vielen Fällen der Vergangenheit angehören. Unterstützt von Donald Trump zieht die Anti-Wokeness auch in die Wirtschaft ein. Ein US-Vermögensverwalter hat bereits einen neuen ETF entwickelt, der woke Unternehmen gezielt ausschließt. Ganz oben auf seiner schwarzen Liste steht Starbucks. Die Kaffeehauskette achtet bei der Einstellung von neuen Mitarbeitern auf ethnische Vielfalt.