Kiew. Okhmatdyt ist das größte Kinderkrankenhaus der Ukraine. Für manche Kinder und Eltern ist es die letzte Hoffnung. Andere haben aufgegeben.
Die Schmerzensschreie durchschneiden die Dialyse-Station wie Messer. In Bett Nummer drei des Krankenhauses, links an der Wand, liegt ein Mädchen, 17 Jahre alt, eingekuschelt in bunte Bettwäsche. „Sie hat eine schwere Drogenvergiftung“, erklärt Oleksandr Urin später. Erst am Vortag sei sie von der Polizei hergebracht worden. Mit welcher Substanz sie sich vergiftet hat, ist unbekannt. Auch, ob es sich um einen Suizidversuch handelte.
Ungewöhnlich wäre es nicht. Denn davon sehen sie hier, auf der Dialyse-Station des Kinderkrankenhauses Okhmatdyt in Kiew, seit Beginn der russischen Vollinvasion immer mehr. Oleksandr Urin ist der Interims-Generaldirektor der Klinik. Dem studierten Anästhesisten und Vergiftungsexperten begegnen hier Kinder, die müde sind von den ständig vom Luftalarm unterbrochenen Nächten. Jugendliche, die sich nach einer unbeschwerten Teenie-Zeit sehnen. Die nicht zur Schule gehen oder nur online dem Unterricht folgen, sich nicht immer und überall mit Freunden treffen oder zum Musikunterricht gehen können, weil Raketen und Drohnen drohen. Die den Gedanken, dass ein benachbartes Land ihr ganzes Volk auslöschen will, nicht verarbeitet bekommen.
Wer würde es ihnen verübeln? Schon die Erwachsenen in der Ukraine kämpfen vermehrt mit Depressionen, Schlafstörungen und Erschöpfung. Manche von ihnen hegen Selbstmordgedanken. Manche setzen sie um. Auch die Kinder.
Suizidgedanken nehmen in Kriegsgebieten zu
Eine im Mai 2024 veröffentlichte Studie von der Universität von Turku (Finnland) belegte den Zusammenhang zwischen einem von Kampfhandlungen und Angriffen betroffenen Wohnort und einer gestiegenen Rate an Suizidgedanken. Durchgeführt wurde die Erhebung unter 11- bis 17-Jährigen zwischen September 2016 und Januar 2017, also sogar noch vor Beginn der Vollinvasion. Es dürfte eher noch schlimmer geworden sein. Im damals schon umkämpften Donezk etwa lag der Wert bei 31,7 Prozent, während 18,6 Prozent der Jugendlichen in der Region Kirovograd ab und zu Suizidgedanken haben. Mädchen in der Kriegsregion sind laut Erhebung deutlich häufiger betroffen (39,3 Prozent) als Jungen (16,9 Prozent).
Die meisten Heranwachsenden in den Kriegsregionen berichteten den Forschenden davon, wie sie Gewalt zum Opfer gefallen seien, wie sie unfreiwillig von ihren Eltern oder anderen Familienmitgliedern getrennt worden seien, wie sie mitansehen mussten, dass Zivilisten getötet oder verletzt wurden oder dass ihr Eigentum beschädigt wird. Leitautor Andre Sourander betonte, einer von drei jungen Erwachsenen in einer vom Krieg betroffenen Ecke des Landes erwähne Selbstmordgedanken. Dies zeige den enormen Einfluss des Krieges auf die jungen Menschen.
Kinder verlieren Vertrauenspersonen und die Chance auf Bildung
Mittlerweile dauert der Krieg seit über 1000 Tagen an. Der dritte Kriegswinter geht durchs Land, viele Menschen sitzen tagsüber in kalten Wohnungen, immer wieder phasenweise ohne Strom. Ein Ende ist nicht in Sicht. Die Kinder und Jugendlichen, sie sind auf mehreren Ebenen Opfer des Krieges: Sie verlieren eine wichtige Phase in ihrer Entwicklung, sie verlieren Vertrauenspersonen, sie verlieren die Möglichkeit, sich zu bilden.
Der Zustand der 17-Jährigen in Bett drei sei inzwischen stabil, sagt der Mediziner Oleksandr Urin. Was nicht so stabil ist, ist der Zustand seiner Dialyse-Einheit. Zwar hat Svenja Schulze, deutsche Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, am Donnerstag moderne Dialyse-Geräte an das Team überreicht. Überall in der Klinik hört man, wie dankbar alle Deutschland für die millionenschwere Unterstützung, auch in anderen Bereichen, seien.
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Nach russischem Raketenangriff können weniger Kinder behandelt werden
Doch das reicht nicht, und an der zentralen Leerstelle kann die SPD-Politikerin auch nicht viel ändern: Am 8. Juli 2024 wurde die Kinderklinik von einer russischen Rakete getroffen. Eine 30-jährige Nephrologin kam bei dem Angriff ums Leben, ebenso ein weiteres Teammitglied. Jetzt können sie auf Station nicht mehr annähernd so viele Kinder behandeln wie vorher. „Vor dem 8. Juli hatten wir jeden Tag durchschnittlich 17 Kinder hier“, sagt Urin, zur Dialyse, für Nierentransplantationen – heute seien es vier akute Fälle. Die chronisch Kranken seien woanders untergebracht. Das ganze Krankenhaus musste seine verfügbaren Plätze von 720 auf 550 herunterfahren.
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Okhmatdyt ist in der Ukraine eine Institution. Es ist die größte Kinderklinik des Landes. Für viele kleine Patienten und ihre Eltern ist es der Ort der letzten Hoffnung, sagt Oleksandr Urin. Wer heute über das Gelände der Klinik geht, sieht auch gut fünf Monate später überall Spuren der Verwüstung. Das Gebäude der Nephrologie, ein blauer Altbau, wurde komplett zerstört. Alle darin Anwesenden wurden getötet, darunter die Nieren-Ärztin beim Versuch, Kinder zu retten. Die Trümmer sind mit einem Bauzaun abgesperrt, es wirkt wie ein Mahnmal.
Geht man die Straße weiter hoch, sind alle Fenster des sich daran entlang schmiegenden Klinikgebäudes mit Spanplatten zugenagelt – die Druckwelle hat sie zum Bersten gebracht. Dasselbe Bild am gegenüberliegenden Haus, Spanplatten und notdürftige Plastikabdeckungen.
Zahl der Frühgeburten hat sich erhöht
Die künftigen Dialyse-Patienten mussten in den Neubau umziehen, in dem bis dato vor allem Operationen durchgeführt worden sind. Die Neonatalogie mit den Frühchen in Brutkästen wurde ebenfalls beschädigt, obwohl der Einschlagsort der Rakete weit entfernt lag. „Die Zahl der Frühgeburten in der Ukraine hat sich drastisch erhöht“, sagt die Stationsleiterin. „Mutmaßlich durch den Stress.“ Trotzdem haben sie aktuell nur Platz für sieben Babys.
Massiv zerstört wurde dagegen das Herzzentrum. Zum Zeitpunkt, als die Rakete einschlug, operieren die Ärztinnen und Mediziner vier Kinder parallel am Herzen. Drei OP-Säle werden zerstört. Die Druckwelle zerbricht das Dach, Türen und Fensterscheiben, überall liegen Trümmerteile herum. Im Schock und vielleicht, um das Unbegreifliche zu dokumentieren, filmen Teammitglieder sofort nach dem Angriff, was im OP zu sehen ist. Da liegt ein Junge, drei oder vier Jahre alt, nackt und völlig regungslos auf dem OP-Tisch. Er ist noch unter Narkose. „Oh mein Gott, das Baby liegt noch da“, ruft eine Schwester. Der Junge hat überlebt.
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Auf den Gängen hört man kein Kinderlachen
Illya Yemets leitet die pädiatrische Herzchirurgie im Okhmatdyt. In einem kurzen Film, den das Krankenhaus nach dem Angriff veröffentlicht, sagt er: „Mütter vertrauen uns ihre Kinder an, trotz des Krieges.“ Vielleicht denkt er dabei an Maria und ihren Opa Wolodymyr: Marias Eltern hatten sich zu Beginn der Vollinvasion in der Türkei in Sicherheit gebracht. Nun sollte sie an den Mandeln operiert werden und kam dafür zurück nach Kiew. Ihr Opa begleitete sie in die Klinik. Er wurde beim Raketenangriff tödlich verletzt, die Familie verlor an diesem Tag also ihren Vater, Opa, Ehemann. Chirurg Yemets sieht persönlich getroffen aus, dass der russische Angriff das Vertrauen der Menschen zerstört hat.
Die Stimmung in der Klinik ist auch knapp 200 Tage nach dem Angriff niedergeschlagen. Ärztinnen und Pfleger gehen stumm ihrer Arbeit nach. Die herumlaufenden Kinder lachen nicht, sie weinen nicht laut, sie sind so still.
Anmerkung der Redaktion:
Aufgrund der hohen Nachahmerquote berichten wir in der Regel nicht über Suizide oder Suizidversuche, außer sie erfahren durch die Umstände besondere Aufmerksamkeit. Wenn Sie selbst unter Stimmungsschwankungen, Depressionen oder Suizidgedanken leiden oder Sie jemanden kennen, der daran leidet, können Sie sich bei der Telefonseelsorge helfen lassen. Sie erreichen sie telefonisch unter 0800/111-0-111 und 0800/111-0-222 oder im Internet auf www.telefonseelsorge.de. Die Beratung ist anonym und kostenfrei, Anrufe werden nicht auf der Telefonrechnung vermerkt.
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