Kiew. Es ist eine der wenigen Kliniken der Ukraine, die kleine Krebspatienten aufnimmt: Nun ist sie zerstört – und die Zahl der Toten steigt.
Es sind die schlimmsten russischen Luftangriffe seit Langem, die die ukrainische Hauptstadt Kiew und andere Städte am helllichten Tag und in mehreren Wellen trifft. Die Sirenen in Kiew heulen pausenlos. Es bricht Panik aus, als die ersten Geschosse einschlagen. Augenzeugen berichten vom Geräusch der Raketenabwehrsysteme, darunter die deutsche Iris-T, die Kiew schützen soll. Doch die Angriffswellen sind massiv. Sie können nicht alle Raketen unschädlich machen, unzählige Trümmerteile stürzen auf die Stadt.
Eine solche Dichte von Raketeneinschlägen hat es schon lange nicht mehr gegeben. Der Kiewer Bürgermeister Vitali Klitschko spricht von einem der schwersten Angriffe in dem seit mehr als zwei Jahren tobenden Krieg.
Die Menschen lassen ihre Autos auf den Straßen stehen und rennen in die U-Bahn-Schächte. Doch viele der kleinen Patienten aus dem Kinderkrankenhaus von Ochmatdyt können nicht mehr fliehen, als offenbar eine Rakete einschlägt und das Gebäude teilweise zerstört. Mindestens 22 Menschen werden bei den Angriffen landesweit am Montag getötet, neun davon in Kiew, mehr als 50 werden verletzt. Doch längst sind nicht alle Opfer geborgen.
Kiew: Angriff auf größte Kinderklinik der Ukraine gezielt
Der ukrainische Staatschef Wolodymyr Selenskyj veröffentlichte ein kurzes Video aus dem Krankenhaus auf der Onlineplattform X. Es sind zerstörte Krankenzimmer zu sehen, Blutspuren auf dem Fußboden. Selenskyj sagte, dass noch Menschen verschüttet seien. „Alle helfen, die Trümmer zu beseitigen – Ärzte und andere Leute“, schrieb er.
Es ist das Kinderkrankenhaus von Ochmatdyt, das schon seit 1894 existiert. Augenzeugen berichten, wie verletzte Kinder auf der Straße weiterbehandelt werden. Freiwillige graben mit bloßen Händen nach Verschütteten, viele Menschen bringen Wasser für die Kinder und die Helfer – es sind 30 Grad. Und immer wieder heulen die Sirenen – Luftalarm. Die Rettungsarbeiten müssen unterbrochen werden.
In Kiew spricht man von einem gezielten russischen Angriff auf das größte und wichtigste Kinderkrankenhaus der Ukraine. Anastasia Magerramova hat das alles miterlebt. Sie ist die Sprecherin der Klinik. Getroffen wurde, so sagt sie, eine Intensivstation, eine Transplantationsstation und eine auf pränatale Chirurgie spezialisierte Einheit. Auf dem gesamten Areal aber seien die Fenster zu Bruch gegangen, erzählt sie: „überall Staub, Trümmerteile, Blut“.
Klinik teils in Trümmern: Anzahl der Toten ist noch unklar
Und dann inmitten dieses Chaos zwischen den Pavillons auf diesem weiträumigen Areal: Kinder mit Infusionsflaschen, die auf ihre Evakuierung warteten. Es sind offenbar kleine Krebspatienten.Wie viele Menschen bei diesem Angriff am Montag getötet wurden, war auch am Nachmittag noch nicht klar. Unter den Trümmern eingestürzter Gebäudeteile wurden noch zahlreiche Opfer vermutet. Unklar war zunächst auch, wo die überlebenden Patienten der Klinik versorgt werden sollten.
Ochmatdyt ist der Dreh- und Angelpunkt der medizinischen Versorgung des Landes in der Kinder- und Jugendheilkunde. In der Klinik werden Kinder aus der ganzen Ukraine behandelt, so sie spezielle Behandlungen benötigen. Und es ist nicht zuletzt der Krieg, den Russland in die Ukraine gebracht hat, der die Kapazitäten eben dieses hoch spezialisierten Spitals an seine Grenzen gebracht hat: In Ochmatdyt werden komplizierte orthopädische Fälle behandelt, Kinder, die Gliedmaßen verloren oder infolge von Verletzungen neurologische Probleme haben.
„Wir sehen den Krieg jeden Tag, wenn wir Kinder mit Schrapnellen im Schädel oder anderen Körperteilen behandeln – jetzt sind wir selbst zum Ziel geworden“, sagt Anastasia Magerramova. „Wir haben Kinder mit Traumaverletzungen, fehlenden Gliedmaßen, Kinder, die bereits ihre Eltern verloren haben.“ Gerade eben wurde zum Beispiel ein Therapiebecken eröffnet, eine Rehabilitationseinrichtung.
Angriff auf die Klinik war nicht der einzige an diesem Tag
Der Krieg hat Ochmatdyt in ein gigantisches humanitäres Projekt verwandelt – in dem sich gut widerspiegelt, wie die Ukraine funktioniert dieser Tage. Geld für den Ausbau der Klinik kam in den vergangenen Jahren vom Staat, von staatlichen internationalen Geldgebern wie zum Beispiel auch Österreich, Frankreich oder den USA, aber vor allem auch über zivilgesellschaftliche Organisationen aus der Ukraine und dem Ausland.
Der Angriff auf die Klinik war bei Weitem nicht der einzige an diesem Tag. Den ganzen Tag über gab es in Kiew Einschläge: Getroffen wurden ein weiteres medizinisches Zentrum auf dem linken Dnipro-Ufer sowie ein Bürohaus und drei Kraftwerkseinheiten. Schwere Angriffe gab es auch auf Dnipro, Saporischschja und vor allem auf Krywyj Rih, die Heimatstadt von Wolodymyr Selenskyj. Auch dort sollen zahlreiche Menschen ums Leben gekommen sein.
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Der Angriff auf ein Kinderkrankenhaus aber ist beispiellos. Wie eine Frau in Kiew sagt: Es setze sich hier fort, was man schon in Mariupol gesehen habe. Was sie damit meint: dass Russland ganz gezielt medizinische Einrichtungen angreift. Und dabei eben auch vor Geburtskliniken wie in Mariupol oder Kinderkrankenhäusern wie in Kiew nicht haltmacht.
Als „Horror und Genozid“ bezeichnete der Kiewer Bürgermeister Vitali Klitschko den russischen Raketenangriff. „Es kann nicht sein, dass Russland nicht weiß, wohin seine Raketen fliegen“, betonte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj. „Es ist sehr wichtig, dass die Welt jetzt nicht darüber schweigt und dass jeder sieht, was Russland ist und was es tut.“
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