Raqqa. Oberflächlich wirkt die frühere inoffizielle Hauptstadt des „Islamischen Staates“ ruhig. Doch die Menschen haben Angst vor neuem Chaos.
Neben dem Schulgebäude stehen die Stapel der ausgelagerten Bänke. In den leeren Klassenzimmern bröckelt der Putz von den Wänden, auf dem Betonboden liegen dünne Teppiche. Die Menschen, die auf den zerschlissenen Matratzen kauern, sehen müde und erschöpft aus. Fassungslosigkeit ist in ihre Gesichter geschrieben. Sie haben ihre Heimat und fast ihr gesamtes Hab und Gut verloren, manche vermissen Angehörige. Der Umsturz in Syrien hat eine dunkle Seite. In Raqqa ist sie sichtbar.
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Ich bin am Sonntagabend in Raqqa angekommen. Es ist eine Stadt im Norden Syriens, in der sich die jüngere Geschichte des Landes wie in kaum einer anderen widerspiegelt. 2013 eroberten Rebellen Raqqa, es war eine der ersten Großstädte, die nicht mehr vom Regime kontrolliert wurden.
Später übernahmen die Islamisten der Al-Nusra-Front die Stadt, dann wurde sie die syrische Hauptstadt des „Islamischen Staates“. Die Terroristen spießten Köpfe von Ermordeten am zentralen Kreisverkehr auf, es waren Bilder, die weltweit für Entsetzen sorgten. 2017 beendeten mehrheitlich kurdische Kämpfer der Demokratischen Streitkräfte Syriens (SDF) die Terrorherrschaft der Extremisten. Sie halten Raqqa bis heute. Noch immer zeugen Ruinen und vernarbte Häuserfassaden von den erbitterten Kämpfen, die damals um die Stadt tobten.
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Syrien nach dem Assad-Fall: Ich werde gewarnt, nach Raqqa zu fahren
Als ich mich wenige Stunden nach dem Fall des Regimes am Sonntagmittag von Qamischlo im äußersten Nordosten Syriens auf den Weg nach Raqqa mache, werde ich gewarnt. Es sei gefährlich, dorthin zu fahren, die Sicherheitslage in der Stadt sei äußerst schwierig. Die kurdisch dominierte Selbstverwaltung in Nordostsyrien, auf deren Einladung ich ins Land einreisen konnte, besteht darauf, dass ich in einem gepanzerten Fahrzeug reise, geschützt von Soldaten. Ich entscheide mich, trotz der angespannten Lage zu fahren, weil ich es für wichtig halte, über die Kehrseite des plötzlichen Regimesturzes zu berichten.
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Die blitzartige Veränderung der Machtverhältnisse in Syrien hat nicht nur Jubel und Begeisterung ausgelöst. Die Minderheiten im Land, Alawiten, Christen und Kurden, blicken in eine ungewisse Zukunft. Als die Kämpfer der Haiat Tahrir al-Scham (HTS), der Nachfolgeorganisation der Al-Nusra-Front, in Aleppo und Homs einmarschierten, versprachen sie, den Minderheiten nichts zu tun.
Bislang haben die Islamisten dieses Versprechen eingehalten. Christen aus Aleppo haben mir berichtet, ihnen sei bislang kein Leid zugefügt worden. Der mehrheitlich von Kurden bewohnte Stadtteil Sheikh Maksud wird noch von Kämpfern der SDF gehalten. Bislang bleibt es friedlich. Es heißt, HTS und SDF hätten Stillhalteabkommen vereinbart. Die größte Gefahr speziell für die Kurden geht derzeit von Kämpfern der mit der Türkei verbündeten Syrischen Nationalarmee (SNA) aus.
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Syrien: 120.000 Menschen auf der Flucht – allein in Nordostsyrien
Die SNA-Milizen sind in den vergangenen Tagen in die bislang von den SDF kontrollierte Shahba-Region nördlich von Aleppo vorgerückt und attackieren derzeit Manbidsch, eine Stadt nordwestlich von Raqqa. Insgesamt sollen bislang 120.000 Menschen vor ihrem Ansturm in die Region Nordostsyrien geflohen sein. Für Renaz ist es bereits das dritte Mal, dass er sich mit seiner Familie in Sicherheit bringen musste. „Die Situation ist sehr, sehr schlimm. Wir leben in der Hölle“, sagt er.
Er ist mit seiner Familie in einer der 80 Schulen Raqqas untergebracht, die jetzt von den lokalen Behörden als Flüchtlingscamps genutzt werden. Es riecht streng hier drin, nach Schweiß, Essen, ungewaschener Kleidung. Der 48-Jährige stammt eigentlich aus Aleppo. 2012 floh er mit seiner Familie vor den Kämpfen dort nach Afrin im äußersten Nordwesten Syriens, das damals von den SDF gehalten wurde. Sechs Jahre später musste die Familie erneut fliehen, als die Türkei die Region mithilfe ihrer islamistischen Verbündeten besetzte. Jetzt sind sie wieder vertrieben worden.
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Renaz ist verzweifelt. Die SNA-Milizionäre hätten ihn und die anderen Flüchtlinge ausgeraubt, jetzt sei er völlig mittellos. „Wir wissen einfach nicht mehr weiter. Niemand kann uns sagen, was jetzt passiert.“ Mit ihm leben in der Schule seine Frau, seine drei Söhne und andere Familienmitglieder. „Wir können nachts nicht schlafen, weil wir uns fürchten“, sagt seine Frau.
Verbitterte Menschen in Syrien: „Eigentlich brauchen wir einen anderen Planeten“
Natürlich freuen sich alle hier über das Ende der über 50-jährigen Gewaltherrschaft der Assad-Familie. Unter den Assads wurde die kurdische Minderheit brutal unterdrückt. Aber die Angst sitzt tief, in einem neuen Syrien keinen Platz zu finden und die Verlierer des Umsturzes zu werden. „Wir brauchen eigentlich einen anderen Planeten“, sagt Renaz verbittert.
Auch in zwei anderen Schulen erzählen mir Flüchtlinge davon, dass sie von SNA-Milizionären ausgeraubt und misshandelt wurden. Geld, Gold, Hausrat, der Viehbestand, einfach alles sollen die mit der Türkei verbündeten Kämpfer erbeutet haben. Jagd machen sie den Berichten der Flüchtlinge zufolge vor allem auf Menschen, die für die Behörden der Selbstverwaltung gearbeitet haben.
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„Sie haben mich drei Tage festgehalten, immer wieder geschlagen und erst freigelassen, als ihnen meine Familie 1000 Dollar gezahlt hat“, erzählt Sheyar, 27, aus Aqibe, einem Dorf in der Region Shahba. Leyla, eine ältere Frau mit verhärmtem Gesicht, ist mit ihrem Sohn geflohen. Er sagt nichts, raucht durchweg. „Er ist nicht mehr richtig im Kopf. Vor sechs Jahren haben ihn diese Leute gefoltert. Sie haben ihm die Fingernägel herausgerissen und ihm Elektroschocks verpasst. Seitdem ist er so.“
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Raqqa: Oberflächlich wirkt alles normal – doch viele haben Angst vor Chaos
Auf der Fahrt durch Raqqa macht die Stadt auf mich einen normalen Eindruck. Die Geschäfte sind geöffnet, die Straßen sind voller Menschen und Autos. Unter der Oberfläche aber scheint es zu brodeln. Meine Begleiter wirken die ganze Zeit über sehr angespannt und nervös. Den Grund dafür erklärt mir Muschlib Turkem, einer der Co-Stadtdirektoren im Büro der Stadtverwaltung: „Wir befürchten, dass jetzt in der Stadt Schläferzellen des IS aktiviert werden, um Chaos zu stiften.“
Die meisten der etwa 800.000 Einwohner von Raqqa sind Araber, viele von ihnen sind äußerst konservativ. Frauen sind häufig vollverschleiert. Turkem mutmaßt, manche der Bewohner der Stadt könnten noch immer mit dem IS sympathisieren. „Die SNA hat dieselbe Ideologie. Wir haben von den Flüchtlingen Geschichten gehört, von denen wir glaubten, dass sie der Vergangenheit angehören.“ Er appelliert an die Staatengemeinschaft, Raqqa und die anderen Regionen Nordostsyriens zu schützen. „Sie müssen Druck auf die Türkei ausüben, damit sie und ihre Milizen uns nicht weiter angreifen.“
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Auf dem Weg von Qamischlo nach Raqqa haben wir eine US-amerikanische Patrouille überholt, vier schwer gepanzerte Fahrzeuge mit dem aufgepflanzten Sternenbanner. Die SDF sind bis heute die engsten Partner der US-Amerikaner im Kampf gegen die verbliebenen Kämpfer des IS. Auf ihren Schutz vertraut man in Raqqa aber nicht. „Sie haben uns immer wieder im Stich gelassen“, klagt Heyven Ismael, mit der sich Turkem die Führung der Stadtverwaltung teilt. Auch sie sagt, sie sei froh, dass das „faschistische Regime Assads“ ein Ende gefunden habe. „Es hat so viele Gewalttaten verübt und die Menschen ausgebeutet. Wir können nur hoffen, dass das nächste System besser wird.“
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