Kiew. Nahe der ukrainischen Front stellt die Post nicht nur Briefe zu. Sie schafft in vergessenen Orten eine Verbindung zum Rest der Welt.

Schön war es, hier die Kindheit zu verbringen, sagt Halyna. Sie erinnert sich an die vielen wunderbaren Tage, als sie als Kinder durch die Gegend gezogen seien – manchmal auf abenteuerlicher Flucht vor imaginären Monstern. Und heute: Da sind die Monster real. In der Nacht seien vier russische Raketen übers Dorf gesaust, erzählt Halyna: „Nach Dnipro, nach Kiew, in den Westen – wahrscheinlich“. Nacht für Nacht sind die Raketen und Drohnen zu hören.

Nichts ist wie es einmal war in Dörfern wie Peto Swystunowe, seit Russland beschlossen hat, offen gegen die Ukraine Krieg zu führen. Peto Swystunowe ist ein Nest nahe an der Front gelegenen Stadt Saporischschja. Beschuss ist weniger das Problem hier – auch wenn es immer wieder mal kracht. Es sind der Stromausfall und die Kälte im Winter.

Ukraine: Die Mindestrente beträgt 52 Euro

Vor allem aber ist das soziale Gefüge in solchen Dörfern kollabiert. Viele Menschen haben die Gegend verlassen. Viele Männer sind bei der Armee. Geblieben sind ein paar Menschen, die hier noch ein bisschen Land bestellen und Rentner wie Halyna. Zumeist sind das Menschen, die die Mindestrente beziehen. Die beträgt umgerechnet 52 Euro. Also wird etwas Gemüse angebaut, einer hat eine Kuh, jemand anderer Hühner, es wird ein wenig getauscht – und so kommt man über die Runden. Irgendwie.

Die unerschrockenen Front-Postboten sind die Verbindung zur Welt
Die Postboten stellen nicht nur Briefe zu, ihren Wagen haben sie zu einem kleinen Supermarkt gemacht. In den entlegenen Dörfern an der Front in der Ostukraine mangelt es an allem. © Stefan Schocher | Stefan Schocher

Halyna hat schon gewartet. Auf Olha Ivanikiv und Oleksandr Shchuka. Als sie in Peto Swystunowe einfahren, stehen die Menschen bereits vor ihren Häusern. Olha Ivanikiv und Oleksandr Shchuka sind Postboten. In Dörfern wie diesem sind sie aber vor allem auch eines: Die administrative Verbindung zum Rest der Welt. Viel mehr noch: In Regionen, die vom Krieg massiv betroffen sind, ist die Post die tragende Säule staatlicher Infrastruktur. Zweimal die Woche werden die meisten Orte angefahren. Sehr entlegene Gebiete, Dörfer, wo nur ein oder zwei Menschen leben, oder Orte, die unter ständigem Beschuss stehen, zum Teil nur ein Mal im Monat.

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Oleksandr Shchuka parkt das Auto. Olha Ivanikiv zückt einen Stapel an Briefen – heute sind das überwiegend Rechnungen für Gas und Strom sowie Rentenauszahlungen. Und sie bereitet den Terminal für die Abwicklung von Zahlungen vor.

Die meisten Menschen, die hier leben, haben kein Bankonto

In Dörfern wie Peto Swystunowe gibt es keine Bankomaten. Wozu auch: Die allermeisten Menschen, die hier leben, haben kein Bankkonto. Es ist also die Post, über die Renten in bar ausgezahlt und über die Zahlung von Rechnungen abgewickelt werden können. Zugleich werden Hilfspakete zugestellt: Nudeln, Öl, Mehl, Zucker – eine monatliche Basis-Versorgung mit Lebensmitteln.

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Olha Ivanikiv hat immer den richtigen Brief bei der Hand. „Guten Tag“, sagt sie. Dann fragt sie: „Wie geht es Ihnen?“ Und auch wenn sie jemanden auf der Straße sieht, zückt sie ohne nach dem Namen zu fragen das richtige Poststück. Man kennt einander.

Post ist in solche Regionen nicht nur Post. Im Kofferraum des Postautos versteckt sich ein kleiner Laden: Eine Auswahl an Süßigkeiten, Keksen, Teebeutel, Kaffeepulver, Seife, Würste, Konserven, Zeitschriften, Unmengen Klopapier. Wieso gerade letzteres ein Verkaufsschlager sondergleichen ist, dafür hat auch Oleksandr Shchuka keine Erklärung. Aber am Ende ihrer Tour ist das Klopapier ausverkauft.

Halyna hat gerade ihre Strom- und Gasrechnung beglichen und zwei Rollen Klopapier mitgenommen. Sie deutet auf die Häuser in der Straße: „Die hier sind alle weg“, sagt sie. Und dort würden jetzt Flüchtlinge aus Luhansk, dort welche aus Donezk leben.

Die zwei Nachbarinnen sind noch da: die 84-jährige Nadija und ihre Tochter Nina (64) – die Enkelkinder sind weg. So, wie die meisten anderen Jungen, die mal hier waren – irgendwo im Westen der Ukraine oder im Ausland. Was da bleibe zum Leben sei die Post, humanitäre Hilfe und „die Liebe zu Gott“, wie es Nina ausdrückt. Näherin war sie, hat in der Stadt gelebt und gearbeitet. Doch die Stadt kann sie sich nicht mehr leisten.

Stadt – das bedeutet hier Saporischschja. Das Hauptpostamt liegt am zentralen Platz, wo bereits mehrere Rakete eingeschlagen sind. Fast alle Fenster an den großen Gebäuden sind zerborsten und irgendwann hat man beschlossen, kein Geld mehr für neue Fenster auszugeben, sondern sie durch Spanplatten zu ersetzen. Die im Erdgeschoss wurden noch bemalt – „damit es etwas bunter ist“, wie Julia Borovik sagt, die Leiterin dieser Zweigstelle. Sie ist ist eine quirlige Frau Anfang 30 mit roten Haaren. Die Post versteht sie als Netzwerk, als Säule des Staates – eine um so wichtigere in strukturschwachen Regionen, in denen der Staat angegriffen wird.

Die unerschrockenen Front-Postboten sind die Verbindung zur Welt
Die Spanplatten ersetzen die Fensterscheiben. Im Erdgeschoss der Postzweigstelle in Saporischschja wurden die bemalt: „Damit es etwas bunter ist“, wie Julia Borovikgt, die Leiterin dieser Zweigstelle, sagt. © Stefan Schocher | Stefan Schocher

Auch Orte, die unter direktem Beschuss stehen, werden von der Post angefahren. Oleksandr Shchuka ist einer der Zusteller, die das tun. Julia Borovik sagt: „Wenn in einem Ort auch nur mehr eine Person lebt, so fahren wir dort hin – private Zusteller machen das nicht, weil es sich nicht auszahlt. Aber irgendjemand muss das tun“.

Und so fahren sie Tag für Tag – wie dem Krieg zum Trotz.

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Über 1000 Tage Krieg in der Ukraine

Im Krisenmodus

Ein Krieg ist das, der noch sehr lange dauern werde, sagt Halyna. Denn mit so einem Nachbarn wie Russland, werde es immer Probleme geben. Oleksandr Shchuka hebt die Hand: „Alles Gute“, sagt er und schließt den Kofferraum. Olha Ivanikiv sortiert die Briefe neu, sucht den nächsten raus, sagt ihm, wohin es geht. Ein behördliches Einschreiben. Doch der Adressat ist nicht zuhause. Oleksandr Shchuka klemmt den Brief ins Gartentor.

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Weiter die Schotterstraße, dann rechts. Eine Frau steht da auf einen Stock gestützt. Wie es denn gehe, fragt Olha Ivanikiv. „So gut es halt gehen könne“, sagt die Frau. Sie fragt Olha Ivanikiv, ob sie denn von den vier Raketen gehört habe, die heute Nacht über das Dorf geflogen seien und den Drohnen. „Freilich“, sagt Olha Ivanikiv. Schlecht geschlafen habe sie deswegen.

Ein paar Häuser weiter sitzen Lidia und Boris. Sie springt auf, als der Wagen hält. Die Rente wird ausgezahlt, die Rechnungen beglichen. Wie es denn der schwer kranken Frau weiter unten gehen, fragt Olha Ivanikiv. Gestorben sei sie, sagt Lidia. Dann macht sie eine Pause: „Was haben wir Russland denn angetan, dass sie uns all das antun? Unsere Jungs sterben jeden Tag.“ Jeden Tag telefoniere sie mit ihrem Sohn in Charkiw. Sie greift in ihre Hosentasche, holt ein Mobiltelefon heraus und fragt Olha Ivanikiv: „Es funktioniert nicht mehr. Kennen Sie sich mit so etwas aus?“ Olha Ivanikiv tippt auf dem Handy herum, gibt es zurück. „Klappt wieder.“ Und weiter geht es.

Weiter durch Weiten nach Orliwske, der letzten Station an diesem Tag: Eine Straße, ein paar Häuser, eines davon wurde von einer Rakete getroffen. Im Haus daneben lebt ein altes Ehepaar zusammen mit der greisen Mutter. Sie greifen sich die letzten Rollen Klopapier. Olha Ivanikiv geht ins Haus. Da sitzt die Großmutter, 95 Jahre alt. Olha Ivanikiv zählt die Geldscheine herunter, lässt ein Formular unterschreiben. „Bis zum nächsten Mal, und alles Gute“, sagt sie zum Abschied.

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