London. Das Unterhaus in London hat heute über Beihilfe zum Suizid abgestimmt. Es macht in einem ersten Schritt den Weg dorthin frei.
Großbritannien geht einen entscheidenden Schritt zur Legalisierung von Sterbehilfe. Im Unterhaus des Parlaments sprach sich eine Mehrheit der Abgeordneten dafür aus, dass todkranke Menschen Hilfe bekommen können sollen, um ihr Leben zu beenden. Die Pläne nehmen damit eine erste Hürde im Parlament und werden nun in Ausschüssen verhandelt, bevor es zu einer weiteren Abstimmung kommen wird.
Der Gesetzesentwurf erlaubt die Sterbehilfe für Erwachsene in England und Wales, die nur noch weniger als sechs Monate zu leben haben. Es müssen dafür zwei Ärzte und ein Richter zustimmen. Bisher gilt Beihilfe zum Suizid als Straftat, die mit bis zu 14 Jahren Haft bestraft werden kann. Die kontroverse Debatte über eine Neuregelung bestimmt seit Tagen die Nachrichten im Vereinigten Königreich. Beobachter sprachen von einem historischen Moment.
Beihilfe zum Suizid: Britische Abgeordnete für Sterbehilfe
Phil Friend macht sich große Sorgen. Der 79-Jährige bringt sie etwas brutal auf den Punkt: „Viele Leute können sich nicht vorstellen, mit einer Behinderung zu leben, darum haben sie das Gefühl, es wäre barmherzig, wenn wir uns umbringen dürfen.“
Für die einen ist es eine zutiefst menschliche Vorlage, die einen schmerzvollen Tod verhindern kann. Andere hingegen sehen darin einen brandgefährlichen Schritt, der Tausende Menschen frühzeitig das Leben kosten könnte. Es ist eines der kontroversesten Gesetzesvorhaben der vergangenen Jahrzehnte, entsprechend heftig und emotional wird die Debatte geführt.
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Urheberin der Assisted Dying Bill ist die Labour-Abgeordnete Kim Leadbeater. Die Gesetzesänderung sei nötig, weil der Status quo vielen Patienten schade, sagt sie. Selbst mit der besten Palliativpflege komme es immer wieder vor, dass Menschen einen „grauenvollen Tod“ erleiden, weil ihre Bedürfnisse nicht gedeckt werden können. Andere todkranke Menschen bringen sich selbst um. „Das kann nicht richtig sein“, sagte Leadbeater.
Großbritannien: Die meisten Menschen sind für die Sterbehilfe
Das Sterbehilfegesetz sieht vor, dass schwerkranke Menschen, die eine Lebenserwartung von höchstens sechs Monaten haben, mit ärztlicher Hilfe ihr Leben beenden dürfen. Es gibt eine Reihe von zusätzlichen Bedingungen. So müssen die Patienten etwa die geistige Fähigkeit haben, eine Wahl zu treffen, und diese in klarer Form auszudrücken, frei von jeglicher Fremdeinwirkung. Zwei Ärzte müssen zudem bestätigen, dass der Patient für assistierten Suizid infrage kommt. Zum Schluss muss der Entscheid von einem Richter abgesegnet werden. Zusammengenommen seien dies „die striktesten Sicherheitsmaßnahmen weltweit“, sagt Leadbeater.
Als die Abgeordnete das Gesetz im Parlament vorstellte, wurde sie begleitet von Nathaniel Dye, einem 38-jährigen, todkranken Lehrer, der sich seit langer Zeit für das Recht auf assistierten Suizid engagiert. „Ich sterbe an Krebs“, sagte er. Er habe zwar einige sehr positive Erfahrungen gemacht mit Palliativpflege: Seine krebskranke Verlobte starb 2011, „ohne dass sie leiden musste“. Für sich selbst hoffe er das Beste – aber er wolle sich auch auf das Schlimmste vorbereiten. Das Gesetz könnte ihm helfen, „einen furchtbaren Tod zu vermeiden“.
Die meisten Menschen in Großbritannien unterstützen die Sterbehilfe. Umfragen in den vergangenen Jahren haben gezeigt, dass 60 bis 70 Prozent der Öffentlichkeit assistierten Suizid begrüßen würden. Kampagnen wie Dignity in Dying haben jahrzehntelang auf ein solches Gesetz hingearbeitet. Sie sehen es als eine „historische Chance“.
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Aber es gibt auch Widerstand. Am prominentesten sind Kampagnen, die mit sozialkonservativen religiösen Gruppen in Verbindung stehen. Auch der kürzlich zurückgetretene Erzbischof von Canterbury, Justin Welby, äußerte sich kritisch: Das Oberhaupt der anglikanischen Kirche warnt, dass sich Menschen unter Druck gesetzt fühlen könnten, ihr Leben zu beenden.
Das ist zum Beispiel Phil Friend. Er hat mit Religion nichts zu tun, aber er stimmt zu. Seit vielen Jahren engagiert er sich gegen eine Legalisierung der Sterbehilfe, er ist Mitgründer der Kampagne Not Dead Yet. Friend hatte Kinderlähmung und sitzt seit vielen Jahren im Rollstuhl. Seine Sorge gilt seinen behinderten Mitmenschen, wie er im Zoom-Gespräch erklärt.
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Friend glaubt, dass die Sicherheitsmaßnahmen in der Vorlage nicht ausreichen, um Missbrauch vorzubeugen. Für einen Arzt sei es oft schwierig festzustellen, ob jemand von Angehörigen gedrängt werde, Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen. Auch gehe es beim Wunsch zu sterben oft nicht um die körperlichen Schmerzen, sondern um das Gefühl, anderen Menschen zur Last zu fallen. „Viele todkranke Menschen fragen sich in solchen Situationen: Wäre es nicht besser, wenn ich nicht mehr da wäre?“, sagt Friend.
Besonders Leute aus benachteiligten sozialen Schichten stelle sich diese Fragen: „Ich selbst lebe in komfortablen Verhältnissen“, sagt Friend. „Aber stellen Sie sich einen behinderten Mann vor, der in Armut im dritten Stock eines Hochhauses ohne Lift lebt, gepflegt von seiner alternden Frau, die selbst nicht mehr bei guter Gesundheit ist.“ In solchen Situationen wäre der Druck, sich selbst umzubringen, enorm groß.
Friend hat großes Mitgefühl mit Menschen, die wegen körperlicher Leiden ihr Leben beenden wollen. Aber ist sich sicher, dass eine bessere gesundheitliche Versorgung einen großen Unterschied machen kann. Das fundamentale Problem sei der prekäre Zustand der Palliativpflege in Großbritannien, sagt er. Wie weite Teile des Gesundheitsdiensts ist sie hoffnungslos unterfinanziert, und nur ein Bruchteil der todkranken Briten haben überhaupt Anspruch auf palliative Versorgung. „Wenn wir alle todkranken Patienten ausreichend pflegen würden, dann würden viele Menschen überhaupt nicht versuchen wollen, frühzeitig zu sterben“, sagt Friend.
Anmerkung der Redaktion
Aufgrund der hohen Nachahmerquote berichten wir in der Regel nicht über (mögliche) Suizide oder Suizidversuche, außer sie erfahren durch die Umstände besondere Aufmerksamkeit. Wenn Sie selbst unter Stimmungsschwankungen, Depressionen oder Suizidgedanken leiden oder Sie jemanden kennen, der daran leidet, können Sie sich bei der Telefonseelsorge helfen lassen.
Sie erreichen sie telefonisch unter 0800/111-0-111 und 0800/111-0-222 oder im Internet auf www.telefonseelsorge.de. Die Beratung ist anonym und kostenfrei, Anrufe werden nicht auf der Telefonrechnung vermerkt.
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