Düsseldorf. Aus dem „Grummeln“ droht ein Basis-Aufstand zu werden: In der NRW-SPD wird der Ruf nach Pistorius statt Scholz immer lauter.

„Sie können mich alles fragen, aber bitte auf gar keinen Fall zitieren“, schnarrte am Montagnachmittag noch ein altgedienter, einflussreicher Sozialdemokrat aus dem westlichen Westfalen ins Telefon. Ohne Umschweife schilderte er die diffuse Stimmungslage an seiner Parteibasis und versicherte eilig: „Ich kämpfe seit Jahrzehnten für das ‚S‘ in der SPD – ‚S‘ wie Soziales.“ Also nicht: „S“ wie Scholz oder „S“ wie Spitzenkandidaten-Wechsel.

Die Frage der Kanzlerkandidatur hat die nordrhein-westfälische SPD, die mit Abstand mitgliederstärkste und einflussreichste Gliederung der deutschen Sozialdemokratie, voll erfasst. Längst hat sich bei den Genossen an Rhein und Ruhr die Meinung durchgesetzt, dass Bundeskanzler Olaf Scholz „bei den Leuten unten durch“ sei und der Partei am 23. Februar eine verheerende Niederlage gegen die Merz-CDU bescheren dürfte.

Viele finden das zwar ungerecht, weil „der Olaf“ unbestritten klug sei und in schwieriger Weltlage mit dem kapriziösen Lindner an Bord nervenstark die MS Deutschland durch die Stürme der Zeit navigiert habe. „Aber nützt ja nichts“, wird meist trocken hinterhergeschoben. Ein westfälischer Aphorismus besagt: Der Wurm muss dem Fisch schmecken, nicht dem Angler.

Lange hoffte die NRW-SPD, Scholz werde selbst merken, was die Stunde geschlagen hat

Lange wirkte die NRW-SPD gefangen zwischen Solidarität zum eigenen Kanzler und Zweifeln an seiner Zugkraft beim Wahlvolk. Mancher hoffte, der Chef werde von allein erkennen, was die Stunde geschlagen hat und „den Biden machen“. Also: Rückzug in Ehren nach dem Scheitern der Ampel, Bahn frei für Umfragekönig Boris Pistorius, der im schlechtesten Fall einige Bundestagsmandate retten und dann als Verteidigungsminister und Vizekanzler bei Merz unterschlüpfen könnte. Selbst in der NRW-CDU gibt es Stimmen, die dem hemdsärmeligen früheren niedersächsischen Innenminister mit der Bodenständigkeit eines ehemaligen Osnabrücker Oberbürgermeisters „Gamechanger-Potenzial“ bescheinigen.

Doch wer sagt es Olaf? „Es bringt doch nichts, wenn wir dem Kanzler öffentlich einen Gesichtsverlust zufügen und die Leute am Ende meinen, die Ampel-Streithähne sind sich selbst in der eigenen Partei nicht mehr einig“, stöhnte der langgediente SPD-Funktionär.

So ging die Theorie. Da von Einsicht beim Mann an der Spitze aber wenig zu spüren war, brauchte die Wahrheit mal wieder einen, der sie ausspricht. Es war Ende vergangener Woche der Bochumer Landtagsabgeordnete und Unterbezirkschef Serdar Yüksel, der dem „Stern“ sagte: „Wenn Sie in der SPD die Mitglieder befragen würden, wären 80 Prozent für Pistorius.“ Das brachte dem 51-Jährigen, der selbst für den Bundestag kandidieren will, nicht nur Applaus ein. Je höher in der Parteihierarchie man nachhörte, desto größer das Unverständnis über den „Nestbeschmutzer“.

Bochumer SPD-Chef traute sich als erster mit Kanzler-Skepsis nach vorn

„Serdar ist eben Serdar“, war noch die freundlichste Einschätzung zu dem Manöver. Yüksel, Einwandererkind mit einer „echten“ Erwerbsbiografie als Krankenpfleger, gehört zu den wenigen Sozialdemokraten, die das Herz auf der Zunge tragen und sich noch etwas trauen. Trotzdem schien Yüksel froh zu sein, als er nach der Einlassung vom sauerländischen Partei-Orakel Franz Müntefering – ein SPD-Kanzler sei nicht automatisch auch SPD-Kanzlerkandidat – nicht mehr ganz so allein in der Landschaft herumstand.

Bochums SPD-Chef Serdar Yüksel traute sich als erster aus der Deckung.
Bochums SPD-Chef Serdar Yüksel traute sich als erster aus der Deckung. © FUNKE Foto Services | Uwe Ernst

Der Bann brach spätestens am Montagabend. Die Angst in der NRW-SPD, mit Scholz an der Spitze etliche Bundestagsmandate zu verlieren und womöglich sogar nur auf Platz vier hinter AfD und Grünen zu landen, veranlasste sogar Co-Landeschefin Sarah Philipp zu einer vorsichtigen Absetzbewegung. Der „BILD“ sagte sie: „Die Partei stellt sich für einen kurzen und intensiven Wahlkampf auf. Dass mit Olaf Scholz und Boris Pistorius gleich zwei Sozialdemokraten zugetraut wird, ein guter Kanzler zu sein, ist dabei eine Stärke.“

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Für die Duisburger Landtagsabgeordnete, die nicht für halsbrecherische Manöver bekannt ist, kommt die diagnostizierte Augenhöhe zwischen Kanzler und Vereidigungsminister in der K-Frage fast einem Misstrauensvotum für Scholz gleich. Philipp weiß eben: Wenn die SPD nicht im Ruhrgebiet mit seinen mehr als fünf Millionen Einwohnern wieder auf die Beine kommt, ist eine Wiederholung des Wahlsiegs von 2021 utopisch.

Wiese und Esdar sind nicht irgendwer im SPD-Kosmos

Wer immer noch nicht verstanden hatte, musste nur noch nach Ostwestfalen schauen. Dort verbreitete sich am Montagabend eine bemerkenswerte Einlassung der Bundestagsabgeordneten Wiebke Esdar und Dirk Wiese, die Chefs der NRW-Landesgruppe im Bundestag sind. Scholz‘ Ansehen sei stark mit der Ampel-Koalition verknüpft, heißt es darin. Es gebe innerhalb und außerhalb der Partei eine Debatte, „was die beste politische Aufstellung jetzt für diese Bundestagswahl ist“. Dabei hörten sie viel Zuspruch für Boris Pistorius. Dann der finale Punch: „Klar ist: Letztlich entscheiden die Parteigremien über die Frage der Kanzlerkandidatur, das ist auch der richtige Ort dafür.“

197. Sitzung des Deutschen Bundestages in Berlin
Einflussreicher Genosse: Ein Statement des Bundestagsabgeordneten Dirk Wiese zur K-Frage lässt aufhorchen. © ddp/Geisler/Frederic Kern | Frederic Kern

Esdar und Wiese sind im SPD-Kosmos nicht irgendwer. Wiese gehört dem konservativen „Seeheimer Kreis“ an, Esdar der Parteilinken. Die 40-Jährige ist Ehefrau des SPD-Politikers Veith Lemmen, der als gewiefter Strippenzieher unter den Genossen gilt. Er war 2019 der Macher hinter dem Überraschungserfolg von Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken bei der Wahl zum SPD-Parteivorsitz. Sie setzten sich damals gegen Scholz und Klara Geywitz, aber auch gegen Pistorius und Petra Köpping durch. Vor allem in NRW hatte Scholz damals nur wenige Fans.

Eigentlich galt seither in der NRW-SPD als Grundregel für politischen Erfolg, dass „Geschlossenheit“ oberstes Gebot ist. Die Wähler mögen keinen Streit und keine internen Positionskämpfe. Noch in der vergangenen Woche hieß es in Düsseldorf, die Kandidatenfrage könne nur von Scholz selbst, Parteichef Lars Klingbeil und dem beliebten und integrativen Bundestagsfraktionschef Rolf Mützenich aus Köln diskret gelöst werden.

Mehr und mehr schien aber das Vertrauen in diese Dreierrunde zu schwinden. Scholz sei vollkommen von sich überzeugt, Klingbeil verfolge für die Zeit nach Scholz mutmaßlich eine eigene Agenda, der pazifistisch sozialisierte Mützenich fremdele inhaltlich etwas mit dem „Kriegstüchtig“-Pistorius, verlautete allerorten resigniert. Nun also ein Aufstand von unten? Der Kanzler weilt zurzeit beim G20-Gipfel in Brasilien. Dass er am 30. November bei der „Wahlsieg-Konferenz“ der Bundes-SPD noch die Mutmacher-Rede halten wird, glauben an Rhein und Ruhr immer weniger Genossen.