Berlin. US-Wahlkampfexperte van de Laar über die Macht der Wählerinnen, die Verzweiflungsaktionen von Trump und Harris‘ überraschende Kehrtwende.

In ihrem ersten Interview seit der Nominierung zur Präsidentschaftskandidatin der Demokraten vollzieht Kamala Harris eine spektakuläre Kehrtwende. US-Wahlkampfexperte Julius van de Laar erklärt, warum sie gerade deutlich nach rechts rückt und wieso Trump darauf reagiert.

Was war das wichtigste Ereignis aus US-Sicht in dieser Woche?

Julius van de Laar: Harris hat das erste Interview gegeben, seitdem sie die Präsidentschaftskandidatin der Demokraten ist. Aus Perspektive der Demokraten war es wichtig, dass sie sich diesem Test gestellt hat, denn Trump und die Republikaner haben ihr sehr effektiv vorgeworfen, sie sei nicht bereit, im Scheinwerferlicht ohne Skript und Teleprompter zu bestehen. Obwohl Harris sichtlich gut vorbereitet war, kam sie dennoch an einigen Stellen in Erklärungsnot.

Zum Beispiel?

Sie wurde gefragt, was sie plant, am ersten Tag ihrer Präsidentschaft direkt umzusetzen. Die meisten Kandidaten haben eine vorbereitete Antwort auf diese Frage. Trump sagte damals: Ich werde am ersten Tag die Mauer an der Südgrenze bauen und die Ölproduktion von Umweltrestriktionen befreien. Bei Harris kam nichts Spezifisches, sie sprach nur davon, die Wirtschaft und den Mittelstand zu stärken. In echte Erklärungsnot kam sie aber beim Thema Fracking. Hier legte sie eine Kehrtwende hin.

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Julius van de Laar ist US-Wahlkampfexperte. © iStock | van der Laar

Was bedeutet das?

Fracking ist in einem der wichtigen Swing States – in Pennsylvania – ein zentrales Thema. Harris hat 2019 bei einem Klima-Townhall des Senders CNN erklärt: Wäre sie US-Präsidentin, würde sie Fracking verbieten. Ein Jahr später, in ihrer Vizepräsidentschaftsdebatte, sagt sie: Joe Biden wird Fracking nicht verbieten. Sie ändert ihre Position nicht, schlüpft aber in den Mantel der Administration und übernahm die Position Joe Bidens. Gestern im Interview sagt sie: 2020 habe sie erklärt, wo sie stehe. Sie werde Fracking nicht verbieten. Sie macht sich Bidens Position von damals zu eigen. Fakt ist aber: Das ist ein 100-prozentiger, politisch motivierter Flipflop. Sie weiß, wie groß der wirtschaftliche Faktor für den so wichtigen Bundesstaat Pennsylvania ist.

Ist das Teil der Harris-Strategie, jetzt von links in die Mitte zu kommen?

Auf jeden Fall. Kamala Harris geht mit diesem Interview ein ordentliches Stück nach rechts, um in die Mitte zu rücken. Wahlen werden immer in der Mitte gewonnen

Gehört dazu auch die Ankündigung, einen Republikaner mit in ihre Regierung zu holen?

Ja. Das war ein cleverer Schachzug. Überall gab es am Morgen die Schlagzeile: Harris will einen Republikaner ins Kabinett aufnehmen. Die Botschaft an potenzielle Wähler lautet: So linksradikal, wie Donald Trump behauptet, kann sie ja gar nicht sein, wenn sie das vorhat. Ob sie es dann wirklich tut, ist eine komplett andere Frage, die wir erst im Januar beantworten können, sollte sie die Wahl gewinnen.

Zur Person

Julius van de Laar ist ein international tätiger Politikstratege und Kommunikationsberater. Er lebte 7 Jahre in den USA. Nach dem Studium der Politik- und Kommunikationswissenschaften an der Furman University in den USA arbeitete er in den US-Präsidentschaftswahlkämpfen 2008 und 2012 als hauptamtlicher Wahlkämpfer für Barack Obama.

Wie lautet die Bilanz des Interviews?

Unter dem Strich ist es gut gelaufen. Es ist ihr gelungen, sich so zu präsentieren, dass das Momentum, von dem sie seit ihrer Nominierung profitiert, nicht abreißen wird. Seit Harris Kandidatin ist, haben die Demokraten 500 Millionen Dollar an Spenden eingenommen. Das ist eine Rekordsumme.

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Wo steht sie in den Umfragen?

Sie liegt hauchdünn in Führung. In wichtigen Swing States liegt sie insgesamt knapp mit 0,6 Prozentpunkten vorne. In Arizona und Nevada ist Trump in Führung, in Wisconsin und Michigan hat Harris einen Vorsprung. In Pennsylvania liegt sie sehr knapp vor ihm (0,8 Punkte). In Georgia gibt es ein statistisches Unentschieden. Aber in all diesen Umfragen bewegt sich der Vorsprung innerhalb der statistischen Fehlertoleranz. Will sagen: Das Rennen ist komplett offen.

NameKamala Harris
Geburtsdatum20. Oktober 1964
AmtVize-Präsidentin der USA
ParteiDemokraten
Familienstandverheiratet, zwei Stiefkinder

Donald Trump fällt derzeit vor allem durch weitere verbale Entgleisungen auf. Ist das Ausdruck von Verzweiflung?

Man merkt, wie der Druck steigt. Er hat seinen Wahlkampf immer aus der Position der Stärke geführt. In der Defensive wirkt er nicht souverän, sondern wirft mit allem, was er findet, nach Harris. Man muss bei Trump jedoch verstehen, dass seine Kampagne vor allem online stattfindet. Sein Team weiß, wo seine Anhänger und die, die es noch werden könnten, stecken. Die Situation ist durchaus mit 2016 vergleichbar. Im digitalen Raum hat er damals den Ton ziemlich genau getroffen. Und es ist durchaus möglich, dass ihm das wieder gelingt.

Zehntausende Frauen tragen sich gerade neu in die Wählerlisten ein. Können es am Ende die Frauen sein, die Trump in die Wüste schicken?

Das ist gut möglich, wenn man sich die Mobilisierung anschaut und die letzten Kongresswahlen 2022, bei denen die Frauen mitentscheidend waren für das Abschneiden der Demokraten. Nach der Verschärfung des Abtreibungsrechts unter Trump ist das Thema in diesem Wahlkampf enorm wichtig. Auch das Thema künstliche Befruchtung hat eine große Bedeutung. Und da hat Trump wiederum eine Rolle rückwärts vollzogen. Er hat angekündigt, dass die Kosten für eine künstliche Befruchtung von den Krankenkassen übernommen werden sollen. Das ist bei den Republikanern ein richtiger Politikwechsel. Das kann darauf hinweisen, dass auch Trump fürchtet, dass die Frauen diese Wahl entscheiden könnten. Doch man muss vorsichtig sein. Auch wenn sich gerade sehr viele Frauen in die Wahllisten eintragen: Nicht alle stimmen automatisch für Harris.

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Was kann noch schiefgehen für Kamala Harris?

Die kurze Zeit bis zur Wahl ist für Harris wie ein langes Bewerbungsgespräch für den Job im Weißen Haus. Der nächste große Test wird das TV-Duell mit Donald Trump am 10. September sein.

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