Kiew. Der Kriegsgefangene Andrej erzählt, wie er Wladimir Putins Lügen auf den Leim ging und warum er die Uniform eines Toten trug.
Fast zwei Wochen rennt Andrej vor dem Tod davon. Von einem Schützengraben zum nächsten, von Bunker zu Bunker. Kaum Essen, kaum trinken, ständiger Beschuss. So viele Leichen. Dann stolpert er in eine feindliche Stellung. Er blickt in die Mündungen ukrainischer Sturmgewehre und lässt widerstandslos gefangen nehmen. In die Angst mischt sich Erleichterung. Er hat es hinter sich. Er lebt. Einige Tage später führen ukrainische Soldaten Andrej in ein leeres Zimmer mit unverputzten Wänden. Sie lösen ein gelbes Klebeband, mit dem seine Hände gefesselt sind. Der Soldat aus Russland setzt sich auf einen Schemel und erzählt, warum er in diesem grauenhaften Krieg gekämpft hat.
Der Osten der Ukraine im Sommer 2024. An allen Frontabschnitten rücken die russischen Streitkräfte vor. Das Ziel der Militärführung ist die Eroberung des Donbass, koste es, was es wolle. In der Region Luhansk kämpft die 20. Gardearmee. Andrej war bei einer der motorisierten Schützendivisionen des Großverbandes eingesetzt, bevor er in ukrainische Kriegsgefangenschaft geriet. Sein richtiger Name und seine Einheit sind unserer Redaktion bekannt. Dass er anonym bleibt, dient seinem Schutz.
Ukraine-Krieg: Der russische Soldat musste in der Uniform eines Toten an die Front
Es ist gerade einmal sieben Wochen her, als er in der Region Wladimir nordöstlich von Moskau seinen Vertrag für die Armee unterschrieben hat. Jetzt sitzt er als Kriegsgefangener in einem Bauernhaus in einem kleinen ukrainischen Dorf. Das Gespräch mit Andrej findet im Beisein von ukrainischen Soldaten statt. Was der Gefangene aus Russland erzählt, deckt sich mit anderen Berichten von Männern, die auf russischer Seite an der Front in der Ukraine kämpfen.
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Andrej ist Mitte vierzig, sein Kopf ist kahlgeschoren, er hat die Hände eines Mannes, der körperliche Arbeit gewöhnt ist. Er sagt, Schulden hätten ihn dazu gebracht, sich freiwillig zur Armee zu melden. Er hatte sich Geld für die Renovierung seiner Wohnung geliehen, bei den Arbeiten flutet er versehentlich die Wohnung des Nachbarn darunter. Plötzlich steht er mit 1,5 Millionen Rubel in der Kreide, umgerechnet etwa 15.000 Euro. Die Armee bietet einen monatlichen Sold von 200.000 Rubel. Also unterschreibt Andrej. „Ich habe alles geglaubt, was im Fernsehen gesagt wurde, aber als ich hierhergekommen bin, habe ich gesehen, dass es alles eine Lüge ist.“
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Ihm sei versprochen worden, als Pionier hinter der Front eingesetzt zu werden. Knapp zwei Wochen nach seiner Vertragsunterzeichnung findet er sich mit anderen Freiwilligen aus seiner Heimatstadt auf einem Trainingsgelände im besetzten Teil der ukrainischen Region Luhansk wieder. „Sie haben uns die Telefone abgenommen, da wusste ich, dass etwas nicht stimmt. Uns wurde gesagt, wir seien jetzt eine Elite-Sturmeinheit.“ Aus einem Container können sich die Rekruten Uniformen und Stiefel zusammenklauben. „Die waren von verwundeten oder toten Soldaten.“ Nach fünf Tagen Training geht es nach vorne. „Ich war verärgert, ich wusste, das ist eine schlechte Situation und dass ich verarscht wurde.“
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In der Nähe der Front bei Makijiwka müssen sie zwei Kilometer über offenes Gelände zu den vordersten russischen Positionen marschieren. „Alles war mit toten Körpern bedeckt.“ Auch in den russischen Schützengräben liegen Leichen, die Bunker sind voller Toter und Verwundeter. Sie werden in Gruppen zu je sieben Soldaten aufgeteilt. Jeder Gruppe sei ein achter Mann zugeteilt worden. „Das waren 500er. So nennen wir die Leute, die nicht kämpfen wollen.“ Der 500er, der mit ihnen nach vorne gehen soll, wird nachts ausgezogen an einen Baum gefesselt. „Am nächsten Morgen musste er als erster ins Minenfeld laufen.“ Ob der Mann das überstanden hat, weiß Andrej nicht.
Sie rennen so schnell es geht durch das Minenfeld Richtung der ukrainischen Stellungen, der Beschuss ist heftig. „Ich weiß nicht, wie ich das geschafft habe, zwei meiner Brüder sind auf Minen getreten und gestorben.“ Andrej erreicht den ukrainischen Graben, den die Verteidiger verlassen haben. Ein weiterer Soldat stößt dazu, dann ein Offizier ohne den Rest seiner Einheit. Sie können den Funk verfolgen. „Das war hart, einer nach dem anderen ist gestorben. Allein 50 Leute aus meiner Stadt. So ist Krieg.“ Maximal zehn von 100 Soldaten, die die ukrainische Stellung stürmten, hätten überlebt, schätzt Andrej. Die Schilderungen passen zu den Frontberichten ukrainischer und russischer Soldaten – die russischen Befehlshaber schicken demnach noch immer ohne Rücksicht auf eigene Verluste Welle auf Welle von Soldaten gegen die ukrainischen Stellungen, bis diese überrannt sind.
In den Tagen danach bewegt sich Andrej von Schützengraben zu Schützengraben, von Bunker zu Bunker. Er muss seinen eigenen Urin trinken, weil er kein Wasser hat. „Wir wurden so gut wie gar nicht versorgt.“ Verwundete seien nicht in Sicherheit gebracht worden. „Sie wollten zurück, durften aber nicht.“ Ständig werden sie von Drohnen attackiert und mit Artilleriegeschossen bombardiert. Am elften Tag an der Front schwimmt Andrej durch einen See. „Es war das erste Mal seit langem, dass ich ausreichend trinken konnte. Aber ich hatte danach Durchfall und musste kotzen.“
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Auf der anderen Seite läuft er schließlich in eine ukrainische Position. „Man wusste nicht, wo man hingehen soll, weil das Landschaftsbild sich komplett verändert hatte wegen der Bombardierungen.“ Die Ukrainer geben ihm Brot, Wasser und Zigaretten, bringen ihn in eine sichere Stellung. Zwei Wochen nach seiner Gefangennahme gehe es ihm gut, sagt er. „Ich habe zugenommen.“ Wie es jetzt weiter geht, weiß er auch nicht. Nur so viel: „Ich will nicht mehr kämpfen.“
Sergej ist erst vor wenigen Tagen in Gefangenschaft geraten. Um seine Augen glänzen blaue Hämatome. „Ich könnte lügen und sagen, ich sei die Treppe heruntergefallen. Das stimmt aber nicht.“ Offensichtlich ist er von den Männern geschlagen worden, die ihn verhört haben. „Das war nur ein Unfall“, wiegelt Sergej ab, „aber ich bin nicht sauer. Sie hätten ja alles Mögliche mit mir machen können.“ Wie Andrej war auch er bei einer motorisierten Schützendivision der 20. Gardearmee im Raum Luhansk eingesetzt.
Auch Sergej sagt, Verschuldung habe ihn in den Armeedienst getrieben. Er hat in Moskau als Koch gearbeitet, sein Restaurant musste in der Corona-Pandemie schließen, Frau und Tochter haben ihn verlassen. Irgendwie sei eins zum anderen gekommen. Er hat sich schon im Mai 2023 eingeschrieben, landet in einer Antipanzer-Einheit. „Zum Glück war ich nicht bei den Sturmeinheiten. Die sind immer wieder nach vorne geschickt worden. Von 100 sind manchmal nur sechs oder sieben zurückgekommen.“ Er sagt auch: „Wenn man verwundet wurde und zurückgegangen ist, wurde man zurückgeschickt, wenn die Verletzung nicht schlimm war. Wer sich weigerte, wurde erschossen.“
Im Mai 2024 läuft sein Vertrag mit der Armee eigentlich aus. „Ich wollte die Armee verlassen, aber ich konnte nicht, sie haben mich nicht gelassen.“ Nach einem kurzen Urlaub kehrt wieder zurück an die Front. Am Tag vor seiner Gefangennahme wird er mit einem anderen Soldaten zu einer russischen Position geschickt, sie sollen Munition und Essen nach vorne bringen.
Sergej denkt, er habe einen guten Tag erwischt, es regnet, an solchen Tagen sind weniger Drohnen in der Luft. Trotzdem wird sein Kamerad getroffen. Die beiden verbringen die Nacht in einem Waldstück 300 Meter entfernt von ukrainischen Stellungen. Sergej überlegt, was er machen soll. Sein Kamerad verblutet neben ihm. Am Morgen hört er Schritte, dann stehen ukrainische Soldaten vor ihm. Sein Krieg ist vorbei.
„Ich hätte meine finanziellen Probleme anders lösen sollen. Ich hätte nicht alles glauben sollen.“ Er sagt, er habe nicht viel darüber nachgedacht, was die russische Armee in der Ukraine mache. „Ich bin davon ausgegangen, dass wir Menschen helfen. Jetzt habe ich verstanden, dass es Irrsinn ist.“
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