Berlin. Die Ukraine geht mit ihrer Offensive Risiken ein, militärisch wie politisch. Experten sind erstaunt und warnen. Ist es der Anfang vom Ende?
Die ukrainische Offensive gewinnt an Fahrt. In Russland löst sie Schockwellen aus. Irritiert sind auch Experten. Die Strategie verwirre sie militärisch, gestand Jade McGlynn vom King‘s College London. „Als politische Strategie war es sehr erfolgreich“, sagte sie im „Guardian“. Sie zeige, dass Russland nicht so stark sei wie behauptet. Es ist nicht gelungen, den Vorstoß in der Region Kursk zu unterbinden: Der Ukraine-Krieg ist in Russland angekommen.
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In der Vergangenheit hat man Partisanen bei Vorstößen unterstützt oder Landebahnen, Marinestützpunkte und Ölterminals zerstört. Die jetzige Offensive hat eine neue Qualität. Daran sind mindestens zwei Brigaden beteiligt: hochmobile mechanisierte Truppen, wohl gestützt von einer beträchtlichen Luftabwehr. Letztere hat, wenn sich die Information bestätigen sollte, ein Kampfflugzeug und zwei Hubschrauber abgeschossen.
Offensive in Kursk: Gratwanderung zwischen Verzweiflung und Genialität
Von Kremlchef Wladimir Putin erwartet Ex-General Mick Ryan, dass er alsbald den „Refrain in diesem Krieg“ anstimmt. Was der Australier damit meint? Die Androhung des Einsatzes von taktischen Atomwaffen. Und der Herrscher wird drängende Fragen stellen – an seinen Oberbefehlshaber, General Waleri Gerassimow. Eine Agentur meldet, Gerassimov sei von den Geheimdiensten alarmiert worden, habe die Warnungen aber ignoriert.
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Was ist die Perspektive des Angriffes? Ist die Ukraine durchhaltefähig? Welche Risiken – auch politisch – geht Präsident Wolodymyr Selenskyj ein? Verzweiflung und Genialität können mitunter nahe beieinander liegen.
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Putins Kontrollverlust im Ukraine-Krieg
Der Anfangserfolg bestätigt erstmal Selenskyj. Die Ukrainer haben die Initiative im Krieg übernommen. Das ist für die eigene Öffentlichkeit, für die Kampfmoral wichtig. Umgekehrt bedeutet es für Putin: Kontrollverlust. Selenskyj sagt: „Russland hat den Krieg in unser Land gebracht und sollte spüren, was es getan hat.“
Dass die Ukraine den Spieß umdreht, damit hatte keiner gerechnet. Auch ihre Partner nicht. Ein Sprecher des US-Verteidigungsministeriums sagte dem Militärportal „The War Zone“, die USA seien nicht konsultiert worden. John Kirby, der Sprecher des US-Sicherheitsrats, erklärte, die Regierung habe Kontakt mit Kiew aufgenommen, um „ein etwas besseres Verständnis“ der Offensive zu bekommen. Hätten die Amerikaner zu diesem Wagnis geraten?
Wie weit können die Ukrainer vorrücken
In der Ostukraine wurden die Verteidiger zuletzt zurückgedrängt. Die angeblich 3.000 Soldaten für den Vorstoß in Kursk könnten ihnen an der originären Front fehlen. Um die Dynamik beizubehalten und Chaos in den russischen Linien zu verursachen, müssen die ukrainischen Truppen außerdem weiter vorrücken.
Dazu müssen sie die Versorgung mit Treibstoff, Lebensmitteln, Munition sicherstellen, sich zugleich einen Rückzug offen halten. Die russische Armee ist zwar schwerfällig. Sie wird aber sicher Truppen verlegen und hat noch immer die Lufthoheit. Der Militärexperte Carlo Masala bescheinigt Selenskyj eine „Hochrisikostrategie“.
„Das militärische Ende der Ukraine“
Ein weiterer Experte, Gustav C. Gressel, sieht die Ukraine in einer „verzwickten Lage“. Und damit meint er nicht nur, dass ihr die Soldaten im Donbass fehlen werden. Er ist überzeugt, sie könne den Krieg konventionell kaum gewinnen. „Daher versucht sie es mit riskanten Operationen“, sagte er dem „Spiegel“. Das ist auch politisch nicgt ungefährlich. Gressel: „Das Kursk-Manöver könnte das militärische Ende der Ukraine einleiten.“
Möglich ist, dass die Ukrainer einer russischen Offensive, einem Sturm auf Charkiw zuvorgekommen sind. Es könnte ihnen gelingen, russische Operationen zu verlangsamen, zu stoppen; und sie dazu zu bringen, Streitkräfte an der Grenze zu behalten, statt für einen neuen Angriff in der Ukraine zusammenzuziehen.
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Weh tut Putin, dass die Ukraine offenbar die Kontrolle über eine Gasmessstation von Gazprom erlangt hat, die den Transit russischen Gases durch die Ukraine sicherstellt. Sie liegt bei Sudscha. 60 Kilometer nordöstlich entfernt liegt das russische Kernkraftwerk Kursk. Auch ein Ziel?
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Bessere Ausgangslage für Verhandlungen
Russische Militärblogger berichteten von Kämpfen teilweise über 20 Kilometer nördlich der Grenze. General Apti Alaudinov, Kommandeur der tschetschenischen Spezialeinheit Achmat, sagte in einer Videobotschaft auf seinem Telegram-Kanal, „die Situation ist nicht unumkehrbar, es ist nichts Übernatürliches passiert… Ja, unsere Männer sind gestorben, das ist eine Tatsache. Der Feind ist in mehrere Siedlungen eingedrungen.“
Sollte es der Ukraine gelingen, ihre Position zu halten, würde sie ihre Ausgangssituation für mögliche Verhandlungen verbessern. Das spricht politisch für die Offensive. Allerdings geht man auch Risiken ein.
Die Ukraine stellt insbesondere das Verhältnis zu den USA auf die Probe. Je länger die Operation andauert, desto wahrscheinlicher ist es, dass die Präsidentschaftskandidaten Donald Trump und Kamala Harris sich positionieren; insbesondere zu der Frage, ob amerikanische Waffen für solche Aktionen in Russland eingesetzt werden dürfen.
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