Moskau. Um inhaftierte Kremlkritiker freizubekommen, ließ sich der Westen auf einen Deal mit Putin ein. Nun äußern einige unerwartete Vorwürfe.
Sein Tod machte keine Schlagzeilen: Ende Juli starb der russische Pianist und Kriegsgegner Pawel Kuschnir nach Angaben des Bürgerrechtsportals OVD-Info in einem Untersuchungsgefängnis in Birobidschan im Fernen Osten Russlands. Dabei war sein Tod ein Aufschrei: Der 39-Jährige erlag den Folgen eines Hungerstreiks, bestätigt eine Freundin auf Facebook. Kuschnir, ein exzellenter Musiker, war Ende Mai unter dem Vorwurf von Extremismus festgenommen worden.
Der Grund: Antikriegsvideos, veröffentlicht auf einem Youtube-Kanal mit damals fünf Abonnenten. Der Pianist wollte nicht mehr bei „Pro-Kriegs-Konzerten“ spielen und verteilte Flugblätter gegen den Krieg, berichtet das Portal „Sibreal.org.“ Schlagzeilen hingegen machten die jüngst nach Deutschland gegen den sogenannten Tiergartenmörder Wadim Krassikow ausgetauschten russischen Oppositionellen.
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Justizminister Marco Buschmann (FDP) sprach von einem besonders bitteren Zugeständnis. Er habe den Generalbundesanwalt angewiesen, Krassikow freizulassen. Außen- und sicherheitspolitische Interessen seien gefährdet gewesen. Zudem habe das Risiko einer „menschenrechtswidrigen Behandlung“ für die Gefangenen in Russland und Belarus bestanden. So wollte man es darstellen.
Austausch: Russische Oppositionelle wollten gar nicht ins Exil
Doch die meisten der ausgetauschten Oppositionellen wollten gar nicht ins Exil freigelassen werden. „Als Menschen, die tatsächlich deportiert wurden, die aus dem Land geworfen wurden, haben wir alle den großen Wunsch, zurückzukehren“, sagt etwa Andrej Piwowarow. „Ich plane nicht, beiseite zu treten.“ Piwowarow und die anderen wollen nicht das Schicksal der belarussischen Oppositionellen teilen, die im Ausland leben – und weitgehend vergessen wurden.
Der Deal war einfach und klar. US-Präsident Joe Biden und seine Vizepräsidentin, die demokratische Kandidatin Kamala Harris, wollten noch vor der US-Wahl den Journalisten Evan Gershkovich und den Ex-Soldaten Paul Whelan medienwirksam freibekommen. Dafür forderte Russlands Präsident Wladimir Putin den Geheimdienstler Krassikow, der in Deutschland inhaftiert war. Also sollten auch nach Deutschland Gefangene ausgetauscht werden. Bundeskanzler Olaf Scholz musste mitspielen – und Krassikow gegen den Willen seines eigenen Generalbundesanwalts freilassen.
Auf dem Moskauer Flughafen schlenderte der Tiergartenmörder selbstsicher und sportlich gekleidet die Gangway hinab, wurde von Kremlchef Putin herzlich umarmt. Beim Zwischenstopp in Ankara musste er noch einen schusssicheren Helm tragen – so wichtig war Krassikow für den Deal. Die ausgetauschten Oppositionellen hingegen reisten in Lagerkleidung oder, wie Wladimir Kara-Mursa, sogar in langen Unterhosen nach Deutschland.
Kara-Mursa sollte Gnadengesuch unterschreiben – und tat es nicht
Wie genau seine Abschiebung aus Russland begann, das erzählt Kara-Mursa dem Onlinemedium „Meduza“. Im Straflager brachten zwei Uniformierte ihn in ein Büro. „An der Wand hängt ein großes Porträt Putins, auf dem Tisch liegen ein leeres Blatt Papier, ein Stift und ein Muster. Sie sagen: ‚Wladimir Wladimirowitsch, setz dich und schreibe. Ich schaue – und das ist ein Begnadigungsgesuch an Putin.‘“ Kara-Mursa hat nicht unterschrieben.
Und auch nicht Oleg Orlow, der 71-jährige Mitbegründer der mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichneten russischen Menschenrechtsorganisation „Memorial“, dem man ebenfalls ein Formular vorlegte und ein leeres Blatt Papier. „Bitte stellen Sie in freier Form einen Begnadigungsantrag an den Präsidenten!“, hieß es Orlow zufolge. „Ich habe das Formular ausgefüllt“, erzählte er, „mich aber geweigert, eine Petition zu schreiben. Dann brachten sie mich in meine Zelle: ‚Du hast 20 Minuten zum Nachdenken!‘“ Beide wollten nicht ausreisen – und wurden trotzdem ausgetauscht.
Piwowarow: „Wir haben den großen Wunsch zurückzukehren“
Ähnlich erging es Ilja Jaschin, wegen Verunglimpfung der Armee zu achteinhalb Jahren Straflager verurteilt. „Ich habe mehrmals gesagt, dass ich nicht auf irgendwelchen Austauschlisten stehen will“, sagt Jaschin. Andere hingegen, keine Oppositionellen im eigentlichen Sinne, flehten um Gnade. Der vorübergehend zum Tode verurteilte Deutsche Rico Krieger sogar öffentlich im belarussischen Staatsfernsehen.
Auch der Deutsch-Russe Kevin Lik wollte ausgetauscht werden. „Ich habe eine Petition geschrieben, in der ich sagte, dass ich mich nicht für einen Verbrecher halte, aber ich hoffe, dass Sie (gemeint ist Putin) mich freilassen.“ Nach Informationen von OVD-Info sind in Russland nach wie vor 1.289 Menschen aus politischen Gründen in Haft. Die Zeitung „Nowaja Gaseta“ hat die Geschichten der Vergessenen gesammelt. Menschen, die vermutlich niemals Schlagzeilen machen werden.
Kara-Mursa: „Ich weiß mit Sicherheit, dass ich zurückkehren werde“
Zum Beispiel Natalia Filonowa aus Ulan-Ude, 100 Kilometer südöstlich des Baikal-Sees in Burjatien. Sie protestierte gegen die Teilmobilisierung im Herbst 2022. Die Quittung: Zwei Jahre und zehn Monate Haft. Oder der 1960 geborene Michail Simonow, ein Bahn-Mitarbeiter. Er veröffentlichte im Netzwerk VKontakte, dem russischen Facebook-Pendant, kriegskritische Kommentare. Die Folge: sieben Jahre Gefängnis.
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Auch für sie will Wladimir Kara-Mursa weitermachen, will zurück nach Russland. Als das Flugzeug in Moskau abhob, so erzählt er es, sagte ihm sein Begleiter vom Inlandsgeheimdienst FSB: „Schauen Sie aus dem Fenster, das ist das letzte Mal, dass Sie Ihr Heimatland sehen.“ Kara-Mursas Antwort: „Ich weiß mit Sicherheit, dass ich zurückkehren werde. Und es wird viel früher sein, als Sie denken.“
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