Tokio. Am 6. August 1945 detonierte über der japanischen Großstadt Hiroshima die erste Atombombe. Die Erinnerung verblasst. Nun soll KI helfen.

Denkt Sumako Hamada an den dunkelsten Tag ihres Lebens zurück, erwähnt sie das, was viele Augenzeuginnen sagen: „Plötzlich war es so unglaublich hell am Himmel.“ Sonnig war der Himmel am 6. August 1945 ohnehin. Aber die damals 19-jährige verstand sofort, dass da noch etwas anderes leuchtete: „Ich war alt genug, um zu wissen, dass das nicht die Sonne sein konnte.“ Die Bauerntochter, die an diesem Morgen auf dem Feld arbeiten sollte, ahnte: Dies wäre das Ende des Krieges.

Sie lag richtig. An jenem Tag detonierte über der südwestjapanischen Stadt Hiroshima eine von den USA abgeworfene Atombombe. Es war die erste je in einem kriegerischen Konflikt eingesetzte Nuklearwaffe; drei Tage später sollte eine weitere über der weiter westlich gelegenen Großstadt Nagasaki folgen. Diese zwei Schläge – deren militärische Notwendigkeit bis heute höchst fraglich ist – leiteten die endgültige Niederlage Japans ein, das bis dahin neben Nazi-Deutschland und Italien in einer faschistischen Allianz gekämpft hatte. Der Zweite Weltkrieg ging auch in Asien zu Ende.

Hiroshima Überlebende Sumako Hamada
Sumako Hamada ist heute 97 Jahre alt und lebt in einem Pflegeheim in ihrer Heimatstadt Matsumoto. © privat | Privat

Die Schäden waren ungeheuerlich. „Little Boy“, wie die auf Hiroshima angesetzte Bombe vom US-Militär getauft worden war, detonierte 600 Meter über den Dächern der Stadt. Die Temperatur stieg auf mehr als 2.000 Grad Celsius an, das Stadtzentrum verschwand größtenteils, Gebäude schmolzen, wurden dann durch die Druckwelle der Explosion davongetragen. 70.000 Menschen starben in Augenblicken, bald lag die Opferzahl doppelt so hoch. In Nagasaki folgte dann ein ähnliches Inferno.

Sommer 1945: Japan war nicht nur müde, sondern auch ausgehungert

Sumako Hamada, die heute 97 Jahre alt ist und in einem Pflegeheim in ihrer Heimatstadt Matsumoto lebt, erinnert sich an einen surrealen Anblick. Der berühmt gewordene Atompilz ragte in den Himmel. „Fünf meiner Familienmitglieder und Freunde starben. Ich hatte höllische Angst, weiter auf dem Feld zu arbeiten.“ Sie machte es natürlich trotzdem. Wohlbemerkt: In der Stadt Matsumoto befand sich die Teenagerin 80 Kilometer von Hiroshima entfernt. Klar sichtbar war der Atompilz dennoch.

Und Sumako Hamada sagt etwas, das man in der Nachkriegszeit auffällig häufig von Augenzeugen gehört hat: Ausschließlich traurig oder erschüttert sei sie nicht gewesen. „Ich hatte das Gefühl, dass die Niederlage nur noch eine Frage der Zeit sei.“ Das sei nicht nur schlecht gewesen, hatte die japanische Armee doch wiederholt erklärt, man würde bis zum letzten Mann kämpfen. „Der Krieg hatte uns alle müde gemacht. Mich auch. Und das, obwohl wir als Bauern im Gegensatz zu anderen genug Essen hatten!“

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Im Sommer 1945 war Japan nicht nur müde, sondern auch ausgehungert. Bis auf die alte Kaiserstadt Kyoto waren praktisch alle Großstädte durch alliierte Luftangriffe zerstört worden. Die Wirtschaft litt schon lange durch ein US-amerikanisch angeführtes Ölembargo. Militärisch verbuchte das ostasiatische Land, dessen Krieg schon mit dem Angriff auf die ostchinesische Mandschurei 1931 begonnen und das sich dann weite Teile des Pazifikraums unterworfen hatte, seit Monaten nur noch Niederlagen.

Weltpolitik: Folgen der Atombomben über Hiroshima und Nagasaki rückten alles in ein neues Licht

Am 15. August verkündete dann der Kaiser per Radioansprache die Kapitulation Japans. Im Land sollten fortan zunächst die USA den Ton angeben. Aber die Folgen der Abwürfe der Atombomben über Hiroshima und Nagasaki rückten auch in der Weltpolitik alles in ein neues Licht. Man begann zu verstehen, dass militärische Konflikte nun die ganze Menschheit auslöschen konnten. Gerade heute, vor dem Hintergrund riesiger Waffenarsenale und nuklearer Drohungen, ist diese Gewissheit wieder aktuell.

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Ein nicht identifizierter Mann steht neben einem gekachelten Kamin, an dem einst ein Haus in Hiroshima stand. Die Bombardierung am 6. August 1945 war der erste Atomangriff der Welt. © picture alliance / ASSOCIATED PRESS | STANLEY TROUTMAN

Auch deshalb gehört das Erinnern an die Atombomben bis heute zu den wichtigsten Aufgaben des Geschichtsunterrichts an japanischen Schulen. Das zeigen auch Umfragen. Im Jahr 2021 wurden im Auftrag der Zeitung Yomiuri Shimbun landesweit rund 1.000 Studierende im ersten Studienjahr zu den zwei Atombomben befragt. Rund 90 Prozent konnten demnach die Daten der zwei Abwürfe zitieren, 70 Prozent waren auch schon in zumindest einer der zwei Städte gewesen.

Außerdem gaben 93 Prozent der Befragten an, Opfer der Atombomben zu kennen. Rund zwei Drittel hatten auch deren Erfahrungsberichte gehört. Allerdings nimmt dieser Anteil allmählich ab. Denn wenn sich der Atombombenabwurf über Hiroshima heute zum 79. Mal jährt, scheinen die Tage selbst bei Japans hoher Lebenserwartung gezählt, an denen noch Menschen aus erster Hand davon erzählen können, wie es damals war. Und das hat reale Folgen.

„Im Bewusstsein verschwinden diese Ereignisse, sogar in Hiroshima und Nagasaki“

Bereits im Jahr 2015, 70 Jahre später, urteilte das NHK-Meinungsforschungsinstitut auf Grundlage einer Umfrage: „Im Bewusstsein verschwinden diese Ereignisse, sogar in Hiroshima und Nagasaki.“ Doch es gibt einen Lösungsansatz, der das Naturgesetz der fortlaufenden Zeit schlagen soll. Im vergangenen Jahr nahm der öffentliche Rundfunksender NHK ein Projekt auf, das die Erfahrungen einer Überlebenden durch Künstliche Intelligenz verewigen soll.

Atombombenabwurf auf Hiroshima
Im Bild „Little Boy“: Typ der auf Hiroshima abgeworfenen Bombe. © picture alliance / ZUMAPRESS.com | JT Vintage

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Seit 2023 prangt Yoshiko Kajimoto, heute 92, auf einer überlebensgroßen Videowand in Hiroshima, auf einem Stuhl sitzend, und gibt Antworten. „Was denken Sie über die Menschen, die die Bombe abgeworfen haben?“, kann man die Frau aus Hiroshima, die am Tag des Abwurfs 14 Jahre alt war, da fragen. Ein Spracherkennungssystem sorgt dafür, dass die Frau an der Videowand sagt: „Ich frage mich, ob sie darüber reflektiert hatten, was sie da anrichteten. (…) Sie hatten doch sicher selbst Angst vorm Tod?“

900 Fragen haben Schülerinnen und Schüler der Überlebeden gestellt, alles wurde per Video aufgezeichnet. Nun ist die Frau ein lebendiges Museums- und Lehrstück. Manchmal beantwortet sie eine Frage nicht, sondern grummelt nur, schüttelt den Kopf. Das passiert, wenn die KI die vom Publikum gestellte Frage nicht versteht. Dieses Problem soll sich mit zunehmender Interaktion selbst lösen. Noch aber lebt Yoshiko Kajimoto. Und gibt hin und wieder selbst Vorträge im Friedensmuseum von Hiroshima. 

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