Hamburg. Mit den Durchsuchungen in Hamburg ist die Cum-Ex-Affäre zurück auf der Tagesordnung. Worum es geht, was wir wissen.
Nein, wirklich spektakulär war diese Szene nicht. Die drei Männer gingen am Dienstagmorgen in die Finanzbehörde am Gänsemarkt, stiegen anderthalb Treppen hoch – oder vielleicht nahmen sie auch den historischen Paternoster – und standen dann vor der gläsernen Sicherheitstür zum Senatorentrakt. Dort klingelten sie und warteten, bis ihnen geöffnet wurde. Den verdutzten Mitarbeitern zeigten sie ein Papier: einen Durchsuchungsbeschluss der Staatsanwaltschaft Köln.
Man ermittle im Rahmen der Cum-Ex-Affäre gegen drei Beschuldigte wegen des Anfangsverdachts der Begünstigung, ließen die Herren, ein Staatsanwalt und zwei Kriminalpolizisten, wissen. Die Finanzbehörde selbst und ihre Mitarbeiter seien zwar nicht beschuldigt, dennoch wolle man hier nach möglichem Beweismaterial suchen. Dem wollte die Behördenleitung um Finanzsenator Andreas Dressel (SPD) nicht im Weg stehen: Die Besucher bekamen einen eigenen Raum auf der Ebene der Steuerverwaltung, von wo ihnen regelmäßig ganze Rollcontainer voll Akten angeliefert wurden. Hin und wieder gab’s auch ein Glas Wasser oder einen Kaffee. Die Männer blieben bis zum frühen Abend, am Mittwoch setzten sie ihre Arbeit fort.
Cum-Ex: Hamburg verzichtete auf 90 Millionen Euro von Warburg-Bank
So unspektakulär diese Aktion verlief, so große Wellen schlug sie – bundesweit. Was einerseits daran lag, dass zeitgleich auch Ermittler bei dem früheren Bundestagsabgeordneten Johannes Kahrs und dem einstigen Innensenator Alfons Pawelczyk (beide SPD) sowie beim Finanzamt für Großunternehmen und einer Mitarbeiterin vorstellig wurden – also den drei Beschuldigten. Vor allem aber, weil der Mann, der bei dieser Geschichte im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses steht, inzwischen nicht mehr nur der frühere Hamburger Bürgermeister ist, sondern der Sieger der Bundestagswahl und vermutlich der nächste Bundeskanzler – Olaf Scholz.
Zur Erinnerung: In der Affäre geht es um die Frage, warum die Stadt Hamburg es 2016 und 2017 unterlassen hatte, insgesamt rund 90 Millionen Euro aus vermeintlichen Cum-Ex-Geschäften von der Warburg-Bank zurückzufordern und ob der damalige Bürgermeister Scholz und/oder sein Finanzsenator Peter Tschentscher (SPD) darauf Einfluss genommen haben. Kurz vor der Wahl war die Luft aus der Geschichte schon ziemlich raus, weil der Parlamentarische Untersuchungsausschuss (PUA) der Bürgerschaft bis dahin keinerlei Belege für diese Vermutung gefunden hatte.
Cum-Ex-Deals sind inzwischen verboten
Doch mit den Durchsuchungen ist das Thema mit Macht aufs Tableau zurückgekehrt, und es stellt sich die Frage: Wie sehr könnte der Fall Cum-Ex Scholz noch gefährden? Kann er gar seine Kanzlerschaft verhindern? Und welche Folgen muss Bürgermeister Tschentscher fürchten? Um sich der Antwort anzunähern, muss man zunächst festhalten, was zu dem Fall bekannt ist und was nicht.
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Anfang 2016 kam heraus, dass auch Warburg an Cum-Ex-Deals beteiligt gewesen sein soll. Bei diesen mittlerweile verbotenen Geschäften haben Finanzinstitute Aktien rund um den Dividendenstichtag untereinander verschoben, sodass die Finanzämter den Überblick verloren und die nur einmal gezahlte Kapitalertragssteuer mehrfach erstatteten. Der Schaden für den Staat ging in die Milliarden.
Im Finanzamt für Großunternehmen war man auch der Ansicht, dass es sich um einen Fall von Cum-Ex handelt und das Geld zurückgefordert werden müsse. Die direkt bei Warburg eingesetzten Betriebsprüfer und ihre vorgesetzte Sachgebietsleiterin, Frau P., waren zwar nicht immer einer Meinung, aber dennoch votierte P. noch am 5. Oktober 2016 in einem abwägenden Vermerk für die Rückforderung. So räumte sie es im August 2021 bei ihrer Vernehmung im PUA ein.
Scholz bestätigt Treffen mit den Warburg-Inhabern
Warburg-Mitinhaber Christian Olearius hatte schon im Frühjahr Pawelczyk und Kahrs um Rat gebeten – so hat er es seinen Tagebüchern anvertraut, die später von Fahndern aus Nordrhein-Westfalen beschlagnahmt wurden und auf wundersame Weise den Weg an die Öffentlichkeit gefunden haben. Demnach vermittelte Pawelczyk einen Termin beim Bürgermeister: Am Abend des 7. September suchten Olearius und Max Warburg Olaf Scholz im Rathaus auf und schilderten ihm die Lage. Sie fühlten sich ungerecht behandelt und schoben der Deutschen Bank als Partnerin bei den Geschäften die Schuld zu – bis heute die Sichtweise der Warburg-Bank.
Scholz versprach nichts. Aber er empfing die Banker ein zweites Mal: Am 26. Oktober, den Warburg-Inhabern war mittlerweile zu Ohren gekommen, dass Frau P. das Geld zurückfordern will, erschienen sie gegen 18.30 Uhr erneut im Rathaus und übergaben Scholz ein Papier, das den Standpunkt der Bank wiedergab. Der Bürgermeister ließ sich nicht in die Karten gucken, rief Olearius aber am Morgen des 9. November an und empfahl ihm, das Papier dem Finanzsenator zu schicken. So weit räumte Scholz die Vorgänge bei seiner Vernehmung im PUA Ende April ein – allerdings nur auf Basis seines Terminkalenders. Aktive Erinnerungen an die Treffen oder das Telefonat habe er nicht mehr, sagte er.
Frau P. ändert plötzlich ihre Meinung
Tschentscher leitete das Papier am 14. November intern im Haus weiter und schrieb an den Rand, er bitte um Informationen zum Sachstand. Drei Tage später dann das entscheidende Treffen: Frau P. und die Leiterin des Finanzamts erörterten in der Finanzbehörde mit hochrangigen Vertretern der Steuerverwaltung die Lage und entschieden gemeinsam: Wir fordern nicht zurück. Der Sachverhalt sei nicht klar und das Risiko in einem Rechtsstreit zu groß, da die Rückforderungen die Warburg-Bank in die Pleite treiben könnten. Auch P. vertrat jetzt diese Meinung.
So weit wurde der Sachverhalt bislang von den Beteiligten im PUA weitgehend bestätigt. Alle wiesen von sich, dass es irgendeine politische Einflussnahme gegeben hat. Für die SPD ist die Sache damit klar: Alles ist mit rechten Dingen zugegangen, Scholz und Tschentscher haben sich nichts zuschulden kommen lassen. Der Spruch, wo Rauch ist, müsse auch Feuer sein, stimme zwar oft, räumt ein Sozialdemokrat ein, aber in diesem Fall stimme er halt nicht. Die Opposition bewertet den Vorgang hingegen völlig anders. „Die Sache stinkt zum Himmel“, meint Richard Seelmaecker, CDU-Obmann im PUA. Er und auch die Vertreter der Linkspartei sehen etliche Merkwürdigkeiten und Ungereimtheiten.
Warburg-Bank überweist 155 Millionen Euro an den Fiskus
Etwa die: Als es 2017 erneut um mögliche Cum-Ex-Geschäfte bei Warburg ging, wollten Finanzamt und -behörde ein zweites Mal so vorgehen und die Steuern, 43 Millionen Euro, nicht zurückfordern. Doch dieses Mal griff das Bundesfinanzministerium ein und wies Hamburg an, das Geld einzutreiben. Erneut schaltete Olearius Kahrs und Pawelczyk ein, erneut traf er Scholz im Rathaus. Doch die Weisung aus Berlin war unumstößlich. Und sie erwies sich als richtig: Im Sommer 2021 urteilte der Bundesfinanzhof, dass die Geschäfte illegal waren und das Geld einzuziehen sei. Die Warburg-Bank hatte die Steueransprüche da schon beglichen und 155 Millionen Euro an den Fiskus überwiesen. Warum, so fragt nicht nur die Opposition, hat Hamburg so lange und so stur an einer Rechtsposition festgehalten, die schon 2016/17 äußerst umstritten war? Etwa, um eine für die Stadt eminent wichtige Bank zu schonen?
Dazu passt diese Merkwürdigkeit: Ein Grund für den Verzicht auf die Rückforderung war die angeblich drohende Schieflage der Bank. Auch die Finanzbeamtin P. hatte damit in der Runde am 17. November argumentiert, ohne die Angaben selbst überprüft zu haben, wie sie im PUA einräumte. Dabei hatten sich die Inhaber Olearius und Warburg schon Mitte 2016 bereit erklärt, die Forderungen durch private Zuschüsse zu begleichen – was sie letztlich auch taten.
Vor allem der plötzliche Sinneswandel der Beamtin, der sogar zu Streit mit ihren Mitarbeitern führte, wirft Fragen auf – und ist wohl einer der Gründe dafür, dass nun gegen sie ermittelt wird. Indes: Beobachter wundern sich, dass die Staatsanwaltschaft entlastende Aspekte wie die Tatsache, dass die Frau ihre Haltung im PUA erklärt hat und diese von ihren Vorgesetzten mitgetragen wurde, offensichtlich nicht miteinbezogen hat.
Kahrs und Pawelczyk schweigen bislang zu der Angelegenheit
Und Olaf Scholz? Seine Rolle beschränkt sich bislang auf die Gespräche mit den Bankern. Möglicherweise habe er auch mit Kahrs und Pawelczyk mal über das Thema gesprochen – so genau erinnere er sich daran nicht mehr, sagte er im PUA. Das macht die Durchsuchung bei den beiden Genossen so brisant. Sollten die Ermittler Hinweise finden, dass es doch engere Absprachen über das Vorgehen in der Causa Warburg gab, müsste Scholz sich wohl auf unangenehme Fragen einstellen. Zusätzliche Brisanz erhält dieser Punkt durch die Spenden aus dem Umfeld der Warburg-Bank, die 2017 größtenteils an den damals von Kahrs geführten SPD-Kreisverband Hamburg-Mitte und zu kleineren Teilen an den SPD-Landesverband (Vorsitzender damals: Olaf Scholz) gingen. Kahrs und Pawelczyk schweigen bislang zu der Angelegenheit, sollen aber im Dezember im PUA aussagen.
Auch Olearius könnte Scholz theoretisch belasten. Allerdings würde er damit seinem eigenen Tagebuch widersprechen, in dem er notiert hatte, dass der Bürgermeister zurückhaltend reagiert und sich nicht positioniert habe. Ohnehin will der Bankier nur schriftlich auf Fragen des PUA antworten.
Bleibt noch Peter Tschentscher. Selbst in der Opposition glaubt niemand, dass Scholz direkt in die Finanzverwaltung eingegriffen hat. Wenn, dann werde er seinem Finanzsenator mündlich einen diskreten Hinweis gegeben haben, welchen Ausgang des Verfahrens er sich wünsche. Doch der heutige Bürgermeister hat diese Vermutungen, die für CDU und Linkspartei die Grundlage für die Einrichtung des PUA waren, immer wieder eindringlich zurückgewiesen, zuletzt am Dienstag in der Landespressekonferenz: „Es gab keine politische Einflussnahme auf die Entscheidungen der Steuerverwaltung“, betonte Tschentscher da. Dass er bei seiner für Anfang 2022 geplanten Vernehmung im PUA etwas anderes sagen wird, kann wohl ausgeschlossen werden.
Waren die Durchsuchungen politisch motiviert?
Umgekehrt kann Tschentscher eigentlich nur noch von seinen ehemaligen Mitarbeitern in der Finanzbehörde belastet werden. Doch der Kreis wird immer kleiner: Bislang haben alle Befragten aus der Behörde und aus dem Finanzamt klar von sich gewiesen, dass in irgendeiner Form Druck auf sie ausgeübt wurde. In der SPD ist daher der Unmut groß, dass die Opposition diese These dennoch weiter vertritt.
Ohnehin vermuten die Genossen, dass die aktuellen Durchsuchungen vor allem politisch motiviert waren. Denn nachdem die Generalstaatsanwaltschaft Köln das Ansinnen abgelehnt hatte, erhielt die zuständige Staatsanwältin eine direkte Weisung aus dem Justizministerium – obwohl das die „Leitlinien“ der örtlichen Justiz ausdrücklich nicht vorsehen. Der „Kölner Stadtanzeiger“ fasste den Vorgang so zusammen: „Ein CDU-Minister aus dem NRW-Kabinett des Kanzlerkandidaten Armin Laschet ermuntert die rheinische Justiz, die Cum-Ex-Affäre rund um seinen roten Konkurrenten Scholz zu durchleuchten.“