Hamburg. Ungewohnt scharf kritisiert Peter Tschentscher die Bundeskanzlerin. Sie habe dem Druck einiger Ministerpräsidenten nachgegeben.
Die Sondersitzung der Bürgerschaft zu den aktuellen Lockerungen der Beschränkungen in der Corona-Pandemie hat zu einer scharfen Kontroverse geführt. Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) verschärfte seine Kritik an den aktuellen, von ihm mitgetragenen Beschlüssen der Ministerpräsidentenkonferenz (MPK) und Kanzlerin Angela Merkel (CDU) noch einmal und erntete dafür heftige Gegenwehr vor allem der CDU-Opposition.
„Wir sind in dem Dilemma, dass wir uns angesichts der Entwicklung der Pandemie keine großen Schritte leisten können. Zugleich ist der Druck sehr groß, solche Öffnungsschritte zu gehen“, sagte Tschentscher. Deswegen sei im Vorfeld der MPK-Runde schon geklärt gewesen, kleine Schritte etwa bei Kitas und Schulen, den Friseuren und den Blumenläden zu gehen und auch die privaten Kontaktbeschränkungen etwas zu lockern.
Tschentscher: "Nach einigen Stunden hat die Kanzlerin nachgegeben"
„Wir hatten eigentlich geplant, auf Nummer sicher zu gehen, wie es die Kanzlerin formuliert hat, und nicht auf Nummer unsicher“, sagte Tschentscher. Es habe aber einige Länder gegeben, die starken Druck auf weitere Öffnungsschritte hin gemacht haben.
„Es hilft doch nichts, es ist doch auch bekannt. Nach einigen Stunden hat die Kanzlerin nachgegeben. Dann haben wir die Zahl 35 als die richtige Inzidenzgrenze auf 50 angehoben“, sagte der Bürgermeister. Das führe dazu, dass in einzelnen Ländern größere Öffnungsschritte früher erfolgten. „Man kann das machen, aber allen muss klar sein, das ist ein zusätzliches Risiko. Es kann dazu führen, dass die Krise dazu ein Stück verlängert wird“, betonte Tschentscher.
Tschentscher kritisiert Schleswig-Holstein – ohne es zu nennen
Die wirklich großen Öffnungsschritte könnten deswegen eventuell später kommen. „Aber nun ist es so. Einige Landkreise öffnen jetzt den Einzelhandel, obwohl sie noch gar nicht unter dem Inzidenzwert von 50 sind, das Land insgesamt aber schon“, kritisierte Tschentscher, ohne Schleswig-Holstein ausdrücklich zu erwähnen. „Natürlich besteht die Gefahr des Shopping-Tourismus in ganz Deutschland. Das kann man nicht ignorieren, darüber muss man sprechen“, so Tschentscher.
Nur weil „irgendwo in Deutschland Wahlkampf“ sei, könne es nicht sein, dass Probleme nicht mehr angesprochen würden, sagte Tschentscher unter dem Beifall von SPD, Grünen und Linken. Trotzdem sei das Konzept, auf das sich die MPK und Merkel schließlich geeinigt hätten, „sinnvoll, aber es ist ein Risikofaktor eingeplant“.
Letztlich säßen alle in Deutschland in einer „Infektionsgemeinschaft, wir in Hamburg können den Kurs allein nicht bestimmen“. Es gehe auch nicht, gar nichts zu beschließen. Deswegen würden in Hamburg die Öffnungsschritte „in einer vorsichtigen Variante“ umgesetzt, „weil wir weiterhin in einer kritischen Lage sind“.
CDU: Tschentscher untergräbt Vertrauen in die Politik
Dass Tschentscher erst Beschlüsse der MPK mittrage, dann aber Lockerungen infrage stelle und dem Bund Unfähigkeit vorwerfe, untergrabe das Vertrauen in Politik, sagte CDU-Fraktionschef Dennis Thering, der auch daran erinnerte, dass Tschentscher in der vergangenen Woche gesagt hatte, immer wenn Berlin etwas mache, gehe es schief.
„Diese Spielchen bringen uns keinen Zentimeter weiter im Kampf gegen dieses Virus“, sagte Thering. Schon weil die SPD unter anderem mit Olaf Scholz als Vizekanzler Teil der Bundesregierung sei, mute es merkwürdig an, die Verantwortung bei umstrittenen Entscheidungen auf Berlin zu schieben.
CDU kritisiert erneut die Schulpolitik des Senats
Davon abgesehen habe der Hamburger Senat unter Tschentschers Führung selbst etliche Schwachstellen gezeigt, sagte Thering. „Die Schulpolitik – ein einziges katastrophales Missmanagement seit Beginn der Pandemie.“ Hinzu komme ein „anhaltendes Chaos bei der Impfterminvergabe“.
Der CDU-Abgeordnete Dennis Gladiator hielt Tschentscher vor, mit seinem Verhalten Vertrauen zu verspielen. „Der Bund macht angeblich alles falsch – das glaubt Ihnen doch keiner“, wandte sich Gladiator an den Sozialdemokraten. „Wer als Bürgermeister so tut, als sei er nicht auf der MPK gewesen, der versündigt sich an den Bürgern“, sagte Gladiator. Die CDU dagegen betreibe keine „politische Schuldzuweisung“, sondern benenne lediglich klar Fehler.
Linke befürchtet "Jo-Jo-Effekt" durch Lockerungen
Linken-Fraktionschefin Sabine Boeddinghaus nahm Tschentschers Erklärung, man begebe sich mit den Beschlüssen auf einen unsicheren Pfad, zum Anlass für eine grundsätzliche Kritik an der MPK. „Das ist doch ein Versagen dieser Runde“, sagte sie. Dass der Bürgermeister sich von Entscheidungen der MPK distanziere, nun aber sinngemäß erkläre, „wir machen es jetzt trotzdem im Schlechten richtig“, irritiere die Menschen, sagte Boeddinghaus.
Sie befürchte, dass die beschlossenen Lockerungen für einen „Jo-Jo-Effekt“ sorgen: „Es wird im Grunde schlimmer, nicht besser.“ Es werde wohl noch Wochen dauern, bis der Senat die Kapazitäten für kostenlose Schnelltests in Hamburg so weit ausgebaut habe, bis tatsächlich alle Hamburger davon einmal pro Woche profitieren könnten, sagte Deniz Celik von der Linksfraktion. Er sprach von einer „riskanten Öffnungsstrategie“, die der Senat nun umsetze.
Grüne unterstützen Politik von Peter Tschentscher
Große Unterstützung für Tschentscher kam vom Koalitionspartner Grüne. „In die MPK wird mit Peter Tschentscher eine mahnende Stimme der Vorsicht aus Hamburg entsandt. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sich darüber nicht nur wir Grünen uns freuen“, sagte die Grünen-Fraktionschefin Jennifer Jasberg. Dennoch habe sich das Verlangen nach Lockerungen durchgesetzt. „Leider wird bundesweit mit Inzidenzen gearbeitet, die allein kaum aussagekräftig sind. Wir geraten in einen Wettlauf von Impfung, Schnelltest und der dritten Welle“, sagte die Grünen-Politikerin. Dabei sei die Lage unverändert ernst.
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Die Ungeduld führe die Politik „in stressige Auseinandersetzungen“, das Hin- und Herschieben von Vorwürfen führe nicht weiter. Dennoch tat Jasberg genau das und attackierte die für die Teststrategie des Bundes Verantwortlichen, Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) und Verkehrsminister Andreas Scheuer (CSU).
Jasberg nennt Spahn und Scheuer "Team Chaos"
Bevor das „Team Chaos“ die Arbeit überhaupt aufnehme, versorgten Discounter und Drogeriemärkte Bürgerinnen und Bürger zuverlässiger mit Schnelltests. „Ich bin gerne bereit, dem Bundesgesundheitsminister einige Fehler zu verzeihen, er bat darum. Aber ich werde auch mein Bedauern über dessen Unprofessionalität benennen dürfen“, sagte die Grüne.
Zwar sei sie zuversichtlich, dass sich die Lage im Frühjahr in Hamburg verbessern werde, aber derzeit sehe noch anders aus. „Zu viele Menschen sind ungeimpft und ungetestet. Wir können uns in dieser Situation nicht erlauben, dass es steigende Fallzahlen gibt und die Krankenhäuser wieder an ihre Kapazitätsgrenze kommen“, sagte Jasberg. Das sei „keine Schwarzmalerei, sondern eine nüchterne Betrachtung der Lage“.
Von der „Illusion eines Ausstiegsszenarios“ sprach AfD-Fraktionschef Dirk Nockemann. Ganz anders als etwa die Linken-Fraktion hält Nockemann jedoch den Lockdown für unnötig. Seine Fraktion forderte die sofortige Öffnung des Einzelhandels auch in Hamburg.
Thering kritisiert Maskenaffäre der CDU – und bekommt viel Applaus
Diesen Antrag lehnte die Bürgerschaft jedoch ab. Die sozialpolitische Sprecherin der SPD-Fraktion, Ksenija Bekeris, nannte den AfD-Antrag „unverantwortlich und undurchdacht“. Bei einem Inzidenzwert in Hamburg, „der um die 80 schwankt“, müssten die Einschränkungen „konsequent und diszipliniert“ eingehalten werden.
Fraktionsübergreifenden Applaus erhielt Thering, als er sich scharf von den Unions-Bundespolitikern abgrenzte, die für die Vermittlung von Masken Provisionen kassiert hatten. „Wer sich an der Krise persönlich bereichert, hat in einem deutschen Parlament nichts zu suchen. Das schadet der Politik allgemein und auch meiner Partei. Dieses unerträgliche Verhalten darf nur eine Konsequenz haben: sofortiger Rücktritt von allen Ämtern“, sagte Thering.
Die aktuellen Corona-Fallzahlen aus ganz Norddeutschland:
- Hamburg: 2311 neue Corona-Fälle (gesamt seit Pandemie-Beginn: 430.228), 465 Covid-19-Patienten in Krankenhäusern (davon auf Intensivstationen: 44), 2373 Todesfälle (+2). Sieben-Tage-Wert: 1435,3 (Stand: Sonntag).
- Schleswig-Holstein: 1362 Corona-Fälle (477.682), 623 Covid-19-Patienten in Krankenhäusern (Intensiv: 39). 2263 Todesfälle (+5). Sieben-Tage-Wert: 1453,0; Hospitalisierungsinzidenz: 7,32 (Stand: Sonntag).
- Niedersachsen: 12.208 neue Corona-Fälle (1.594.135), 168 Covid-19-Patienten auf Intensivstationen, 7952 Todesfälle (+2). Sieben-Tage-Wert: 1977,6; Hospitalisierungsinzidenz: 16,3 (Stand: Sonntag).
- Mecklenburg-Vorpommern: 700 neue Corona-Fälle (381.843), 768 Covid-19-Patienten in Krankenhäusern (Intensiv: 76), 1957 Todesfälle (+2), Sieben-Tage-Wert: 2366,5; Hospitalisierungsinzidenz: 11,9 (Stand: Sonntag).
- Bremen: 1107 neue Corona-Fälle (145.481), 172 Covid-19-Patienten in Krankenhäusern (Intensiv: 14), 704 Todesfälle (+0). Sieben-Tage-Wert Stadt Bremen: 1422,6; Bremerhaven: 2146,1; Hospitalisierungsinzidenz (wegen Corona) Bremen: 3,88; Bremerhaven: 7,04 (Stand: Sonntag; Bremen gibt die Inzidenzen getrennt nach beiden Städten an).