Hamburg. Im Interview sagt sie, worauf es jetzt ankommt, wie sie den Streit über Annalena Baerbock bewertet – und was sie für ihre SPD erwartet.

Mitten in der Corona-Pandemie hat Sozialsenatorin Melanie Leonhard zusätzlich auch das Gesundheitsressort übernommen. Mit ihrem Krisenmanagement hat sich die 43-Jährige viel Anerkennung erworben – auch bei der Opposition. Beim Abendblatt-Interview in ihrer Behörde an der Hamburger Straße spricht die promovierte Historikerin über den Umgang mit Impfmuffeln, volle Stadien und die Frage, ob es sie nach Berlin zieht, sollte die SPD nach der Bundestagswahl mitregieren. 

Hamburger Abendblatt: In Großbritannien sollen in zwei Wochen alle Corona-Beschränkungen aufgehoben werden, obwohl dort die Infektionszahlen wieder ansteigen. Sind die Briten Vorbild oder schlicht verantwortungslos? 

Melanie Leonhard: Jedenfalls sind sie verwegen. Egal, auf welche Studie man guckt, es gibt ein paar Schutzmaßnahmen, die selbst bei bester Entwicklung weiterhin erforderlich erscheinen: Zum Beispiel das Tragen einer Maske im öffentlichen Nahverkehr und in geschlossenen Räumen. Den Schritt der Briten betrachte ich daher mit Sorge.

„Wir müssen lernen, mit dem Virus zu leben“, sagt der britische Gesundheitsminister zur Begründung. Hat er mit dem allgemeinen Satz trotzdem recht?

Leonhard: Ja, wir leben schließlich auch mit dem Virus. Es ist quasi alternativlos, wir können es ja nicht abbestellen. Ich verstehe unter Leben mit dem Virus: sich arrangieren und gleichzeitig gute Gesundheitsvorsorge mit den notwendigen Schutzmaßnahmen zu betreiben.

Auch in Deutschland mehren sich die Stimmen, die eine Aufhebung der Corona-Einschränkungen fordern  -- keine Maskenpflicht, keine Abstandsregeln mehr. Ihr Parteifreund, Außenminister Heiko Maas, hält das bereits im August für möglich, wenn allen Bürgerinnen und Bürgern ein Impfangebot gemacht worden ist. Ist das realistisch?

Leonhard: Er schränkt es ein und sagt, dass es für vollständig Geimpfte keine Einschränkungen mehr geben soll. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass es für Ungeimpfte bestimmte Einschränkungen weiterhin geben muss. Aber bevor wir so weit gehen, müssen alle, auch die jüngeren Erwachsenen, ein Impfangebot erhalten haben. Auch zu deren Schutz werden zunächst weiterhin ein paar Grundschutzmaßnahmen erforderlich sein.

Also ist August eher unrealistisch?

Leonhard: Ich glaube schon, dass wir allen dann ein Angebot gemacht haben werden, aber nicht alle werden wegen des Abstands bis zur Zweitimpfung dann schon einen vollständigen Impfschutz haben können.

Peter Tschentscher hat auch gesagt, man müsse darüber nachdenken, ob es bestimmte Einschränkungen nur für Nicht-Geimpfte gibt. Auch bei einem erneuten Lockdown könnte der dann nur noch für Menschen gelten, die sich nicht impfen lassen wollen. Ist das für Sie vorstellbar?

Leonhard: Es gibt Lebensbereiche, in denen ich mir das vorstellen kann. Zum Beispiel Besuchsrechte und Freizeitveranstaltungen in Alten- und Pflegeeinrichtungen. Da kann ich einem geimpften Angehörigen, der einen geimpften Lieben besucht, ganz andere Möglichkeiten einräumen als einem Nicht-Geimpften. Beim Theater- oder Konzertbesuch entfällt die Testpflicht nur für Geimpfte, für alle anderen nicht. Das wäre plausibel und maßvoll.

Hieße Lockdown für Ungeimpfte denn auch, dass sie nach 22 Uhr nicht mehr auf die Straße gehen dürfen?

Leonhard: Das ist verfassungsrechtlich schwer vorstellbar. Denkbar ist aber, dass bestimmte Platzkontingente zum Beispiel in Theatern für Geimpfte vorgehalten werden, die dann enger beieinandersitzen als nicht Geimpfte, oder bestimmte Veranstaltungsformen privater Anbieter allein für Geimpfte angeboten werden. Bei staatlichen Angeboten ist das allerdings nicht denkbar.

In Russland gibt es jetzt eine teilweise Impfpflicht. Ist das Thema bei uns durch?

Leonhard: Eine allgemeine Impfpflicht ist in Deutschland nicht vorstellbar. Anders sieht es aus in bestimmten Bereichen. Wer Schulen und Kitas besucht oder dort arbeitet, muss beispielsweise gegen die Masern geimpft sein. Das wird zu einem späteren Zeitpunkt auch für den Corona-Schutz in bestimmten Bereichen zu diskutieren sein.

Wie groß ist die Gefahr, dass wir angesichts der verbreiteten Erleichterung über die niedrigen Inzidenzzahlen die Ausbreitung der Delta-Variante unterschätzen und in die vierte Welle laufen, zumal wenn die Sommerurlauber zurückkehren?

Leonhard: Das ist ein denkbares Szenario. Und es gibt schon Beispiele dafür: etwa die Balearen. Da kann man täglich beobachten, wie die Lage dynamischer wird, ich würde sogar sagen, eskaliert. Oder Großbritannien und Portugal. Die Delta-Variante ist ein sehr fittes Virus und hat leider exzellente Übertragungseigenschaften. Sicher geglaubtes Wissen ist klar widerlegt, etwa die Annahme, dass in Fußballstadien unter freiem Himmel schon nichts passieren könne. Uns kann ein dynamisches Infektionsgeschehen drohen. Die Frage ist nur, ob wir einen so guten Bevölkerungsschutz durch Impfungen, Masketragen und Abstandhalten etabliert haben, dass es uns gesamtgesellschaftlich weniger beeinträchtigt.

Stichwort Stadion: Bei der Fußball-EM wird im Londoner Wembley-Stadion vor 60.000 Zuschauern gespielt.

Leonhard: Das ist nicht gut, und ein Stück weit verantwortungslos. Mehrere Tausend Menschen sind infolge des Besuchs eines EM-Spiels infiziert. Wenn ein Stadion knallvoll ist, macht der Draußen-Effekt nicht mehr viel aus. Man schwitzt, jubelt und fällt sich in die Arme. Das ist ideal für die Verbreitung des Virus. Das weiß auch die UEFA, trotzdem sind ihr die stimmungsvollen Bilder wichtiger. In München sind die Wünsche der UEFA, was die Zuschauerzahl angeht, nicht erfüllt worden, und das war richtig.

Ein besonderes Augenmerk muss auf Schulen gerichtet werden. Wenn der Unterricht in Hamburg in vier Wochen wieder startet, werden die allermeisten Schülerinnen und Schüler nicht geimpft sein, bei Infektionen häufig keine Symptome zeigen, aber das Virus trotzdem weiterverbreiten. Wie kann verhindert werden, dass die Schulen zu den neuen Hotspots der Pandemie werden?

Leonhard: Wir haben ein paar sehr gute Eckpfeiler: die Hygienekonzepte, regelmäßige Reihentestungen, geimpfte Lehrkräfte und Mitarbeitende. Das wird helfen, dass die Schulen auch weiterhin Orte sind, an denen uns nicht reihenweise große Ausbrüche drohen. Völlige Sicherheit gibt es natürlich an keinem Ort, an dem viele Menschen zusammenkommen. Gerade die Erwachsenen müssen jedoch eine große Verantwortung dafür übernehmen, keine Infektionen in die Schulen hineinzutragen.

Was halten Sie vom Einsatz von Lüftungsgeräten in den Klassenzimmern, die Wissenschaftler nun doch häufiger empfehlen als noch vor einem Jahr?

Leonhard: Luftfilter sind kein Allheilmittel. Häufig ist die Leistung zeitlich begrenzt, und Schätzungen zu ihrer Leistungsfähigkeit beziehen sich oft auf kleine Räume mit wenigen Menschen. In der Schule sitzen die Schüler aber die ganze Zeit im Raum. Es geht also nicht ohne Lüftung, also frische Luft durch das Fenster. Man darf nicht glauben, dass durch den Einbau von Filtern jedes Infektionsrisiko vermieden wird. Wir haben Infektionsgeschehen mit und ohne Luftfilter gesehen. Sie können helfen, man darf sich aber nicht darauf verlassen.

Wäre es nicht dennoch bessere Strategie gewesen, auf Luftreiniger als unterstützende Maßnahme zu setzen?

Leonhard: Es ersetzt die Maske nicht. Das ist aber das, was die meisten Menschen wollen: Unterricht ohne Maske.

Es geht jetzt darum, möglichst viele Menschen zu impfen. Was halten Sie von Impfanreizen wie in Israel, wo Impfwillige einen Kneipengutschein bekommen?

Leonhard: Wir prüfen so etwas auch immer wieder. Aber die Erfahrungen in den Ländern, wo so etwas im Einkaufszentrum oder auf dem Marktplatz gemacht worden ist, zeigen, dass es Probleme gibt, dieselben  Menschen zur notwendigen zweiten Impfung zu erreichen. Und dann ist nichts gewonnen. Wir setzen auf ein anderes System in Hamburg. Wir machen niedrigschwellige Angebote, zum Beispiel in Zusammenarbeit mit Jobcentern oder Bürgerhäusern, die ihre Leute und Kunden kennen und somit erreichen.

Was halten Sie von einem Bußgeld für Impfterminschwänzer?

Leonhard: Wir ärgern uns über jeden, der nicht kommt. Die Aufbereitung des Impfstoffs ist aufwendig, die Terminplanung auch. Und die Impfung ist wichtig für die Gesundheit. Deswegen hoffen wir, dass sich auch Zweifler ein Herz fassen und kommen. Ob ein Bußgeld etwas bringt, bezweifle ich. Wer sich die Impfung woanders besorgt hat, weil er in den Urlaub wollte, der lässt sich vermutlich auch von 25 Euro nicht abschrecken.

Trauen Sie sich eine Prognose zu, wann wir die Pandemie überwunden haben werden?

Leonhard: Wenn man mit überwinden meint, dass es abgesehen von gelegentlichem Aufflackern keine großen Gefahren für die Gesamtbevölkerung mehr gibt, dann sagen viele Virologen: Das kann nach zwei bis drei Jahren sein. Das wäre dann im besten Fall im Sommer 2022. Dann könnten die großen gesellschaftlichen Beeinträchtigungen vorbei sein. Aber sicher ist das nicht. Das hängt auch von möglichen neuen Varianten ab.

Was waren aus heutiger Sicht die größten Fehler der Politik beim Umgang mit der Pandemie – jetzt wo sie sich gefühlt dem Ende zuneigt?

Leonhard: Vielleicht ist das ein Hauptfehler, dass viele seit einem Jahr das Gefühl haben, die Pandemie sei bereits zu Ende, oder kurz vor dem Ende. Da haben wir als Politik dann auch Probleme mit dem Erwartungsmanagement. Es gab viele Artikel im Sommer 2020, in denen das Ende der Pandemie beschworen wurde – und es kam ein sehr bitterer Herbst. Gleichzeitig haben wir gelernt: Gesundheitsgüter sind abzuwägen.

Inwiefern?

Leonhard: Ein dramatisches Beispiel sind die Alten- und Pflegeheime. Da hatten wir in der ersten Welle eine Komplettisolierung und im Ergebnis ein überschaubareres Infektionsgeschehen. In der heftigen Welle im Herbst haben dann viele Bewohnerinnen und Bewohner gesagt: Ohne Besuchsrecht ist alles Leben nichts. Ihr könnt uns nicht wieder isolieren. Teilhabe ist ein Menschenrecht. Und das ist eine Lehre: Diese Teilhabe ist ganz wichtig, sie ist auch ein Bestandteil von gesundem Leben. Das gilt für die ganz Alten wie für die ganz Jungen.

Die wichtigsten Corona-Themen im Überblick

Muss man auch über strukturelle Veränderungen zwischen Bund und Ländern reden?

Leonhard: Absolut. Ich finde so eine Debatte jedenfalls notwendig. Wir werden zum Beispiel ganz intensiv über die Zuständigkeiten beim Infektionsschutzgesetz reden müssen. Denn ein Bundesland ist keine Insel. Deswegen brauchen wir zentral koordinierte bundesweit gültige Maßnahmen – neben denen, über die man vor Ort entscheiden kann. Es hat dafür ja eine Reform des Infektionsschutzgesetzes gegeben. Aber die ist nicht der Weisheit letzter Schluss. Da wird man noch etwas Zukunftsfestes draus machen müssen.

Ist es nicht seltsam, als Bundesland nach mehr Zentralismus zu rufen?

Leonhard: Es ist einfach an manchen Stellen sinnvoll und nötig. Zu Beginn der Pandemie hat es zum Beispiel keine einheitlichen Einreiseregelungen gegeben. Das ist dann mit der Musterquarantäneverordnung des Bundes geändert worden. Da ist es auch gut, dass der Bund stärker in die Verantwortung geht. Es war auch richtig, dass sich die Länder zusammen mit dem Bund um ein System zur Verlegung von Patienten gekümmert haben. Wenn das jedes Land für sich gemacht hätte, wären wir alle gescheitert.

Gibt es etwas, das Sie falsch gemacht haben?

Leonhard: Bestimmt. Neben vielen Dingen im Kleinen, bedauere ich vor allem, dass wir im Januar in den Kitas wieder zurück in eine Notbetreuung gehen mussten. Wir hätten uns stärker dafür einsetzen sollen, dass auch solche Einrichtungen frühzeitig Schnelltests hätten beschaffen dürfen – was damals ja nicht erlaubt war. Hätten wir dort früher ein Testregime eingeführt, hätte es möglicherweise weniger Einschränkungen geben müssen.

Wie belastend ist die Pandemie für Politiker?

Leonhard: Klar hat sich das Arbeitspensum erhöht. Aber wir haben als Politiker viel Unterstützung. Eine Freundin von mir ist im Drogeriehandel. Was da in den letzten Monaten los war, passt auch in kein Buch. Es mussten überall viele Menschen mehr arbeiten – auch Politiker. Klar ist: So eine Pandemie ist für jemanden, der Gesundheitspolitik macht, kein Schonwaschgang – erst recht, wenn man neu in dem Ressort ist ...

Was ist denn im Bereich Arbeit, Soziales, Familie, den Sie ja auch vertreten, liegen geblieben durch die Pandemie?

Leonhard: Richtig liegen geblieben ist nichts, das geht gar nicht, dazu drängen sich diese Themen zu sehr auf. In der Jugendhilfe haben wir zum Beispiel mit der Reform des SGB VIII die wichtigste Reform seit Jahren verabschiedet. Wir haben auch viel im Bereich Arbeitsmarkt getan und ein Sonderprogramm aufgelegt, um die Folgen für Menschen, die wegen der Pandemie ihren Job verloren haben, abzumildern. Was tatsächlich nicht so sehr im Fokus stehen konnte, sind Strukturfragen, etwa in der Arbeitsmarktpolitik oder der Behindertenhilfe.

Welches Wahlziel haben Sie als SPD-Landesvorsitzende für die Bundestagswahl?

Leonhard: Erstens möchte ich, dass Olaf Scholz Bundeskanzler wird. Und zweitens können und wollen wir alle sechs Hamburger Wahlkreise gewinnen.

Die CDU hat 2017 bei den Zweitstimmen vor der SPD gelegen. Heute schneidet die SPD bundesweit in Umfragen noch schlechter ab ...

Leonhard: Ich bin sicher, dass wir unser Zweitstimmenergebnis in Hamburg verbessern können. Denn die Konstellation ist eine andere als 2017: Olaf Scholz ist Spitzenkandidat. Wir haben viele Themen auf der Agenda, bei denen wir als SPD in Hamburg gezeigt haben, wie ernst es uns damit ist. Und wir haben zum ersten Mal in der Geschichte in der Bundesrepublik keine Amtsinhaberin, die antritt.

Wie nehmen Sie die Diskussion über Annalena Baerbock, ihren Lebenslauf oder nicht gekennzeichnete Zitate in ihrem Buch wahr? Die Grünen behaupten, die Debatte trage auch frauenfeindliche Züge. Sehen Sie das auch so?

Leonhard: Klar wird Annalena Baerbock auch unfair beurteilt, insbesondere in den Social Media ist da vieles jenseits der Grenze des Akzeptablen. Wir reden hier aber über das höchste Amt in der größten Indus­trienation in Europa. Wenn man sich darum bewirbt, muss man damit rechnen, dass man auf Herz und Nieren überprüft wird, ob es fair ist oder unfair.

Finden Sie die Art in Ordnung, wie Frau Baerbock im Buch fremde Texte nutzt?

Leonhard: Ob ein Buch gut ist, wird ja oft daran gemessen, ob es Neues enthält oder nicht. Niemand zwingt einen Kanzlerkandidaten, ein Buch zu schreiben. Wenn man es aber macht, dann sollte das ohne Fehl und Tadel sein. Mehr will ich dazu gar nicht sagen.

Sie sind eine der profiliertesten SPD-Politikerinnen im Norden. Sollte die SPD nach der Wahl weiterregieren und sie dafür nach Berlin rufen – würden Sie dem Ruf folgen?

Leonhard: Ich finde es schön in Hamburg und bin hier ausgelastet. Meine Pläne haben sich also nicht geändert. Aber Dinge passieren. Und Hamburg tut Berlin immer gut.