Paris/Berlin. Die Rechtspopulistin hat ihrer Partei einen bürgerlichen Anstrich verpasst. Ihr Ziel ist der Elysée-Palast. Eine Frage bleibt offen.
Die Ankündigung des französischen Präsidenten Emmanuel Macron, die Nationalversammlung aufzulösen, lief am Sonntagabend gerade über die Fernsehschirme, da tritt Marine Le Pen auf die Bühne. „Wir sind bereit, die Macht auszuüben“, sagt sie bei der Siegesfeier des rechtspopulistischen Rassemblement National (RN), dessen Fraktion sie im französischen Parlament führt. Sie wettert gegen „Masseneinwanderung“ und predigt die „Reindustrialisierung Frankreichs“.
Le Pen klingt entschlossen, kämpferisch. Ihre Anhänger, die kurz vorher die Marseillaise gesungen haben, jubeln und feiern. Der RN hat bei der Europawahl kräftig zugelegt und über 31 Prozent der Stimmen geholt, mehr als doppelt so viele wie das Wahlbündnis des Präsidenten. Eine schallende Ohrfeige für Macron, den Super-Europäer.
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Le Pens Wahlerfolg kommt nicht von ungefähr
Le Pens Wahlerfolg kommt nicht von ungefähr. In den vergangenen zehn Jahren hat sie dem RN seine rechtsextremen Kanten abgeschliffen und ihn programmatisch Richtung Mitte bewegt. Ultraharte Positionen wurden abgemildert. Dahinter steckt eine strategische Grundsatzentscheidung. Le Pen will den RN aus der Schmuddelecke einer Anti-System-Partei herausholen und durch einen Wohlfühlkonservatismus auch für Wähler im bürgerlichen Spektrum attraktiv machen.
Spektakulärstes neuestes Beispiel für diesen Kursschwenk ist der Rausschmiss der AfD aus der Fraktion Identität und Gerechtigkeit (ID) im Europaparlament, der neben dem RN auch die österreichische FPÖ oder die italienische Lega angehören. Le Pen war eine der treibenden Kräfte, nachdem der Europa-Spitzenkandidat der AfD, Maximilian Krah, die Wirkung der Nazi-Truppe SS verharmlost hatte.
Man könnte diesen Kurs der Entradikalisierung nach dem Vorbild der italienischen Ministerpräsidentin „Meloni 2.0 à la française“ nennen. Giorgia Meloni ist Chefin der postfaschistischen Fratelli d’Italia, kommt aber mittlerweile als eher gemäßigte Konservative rüber, die von allen Seiten umworben wird. Le Pen würde im Europaparlament am liebsten mit Meloni eine rechte Supergruppe bilden.
Rechte im Aufwind
Abstände zu Macron immer geringer
Das Momentum aus dem Sieg bei der Europawahl will Le Pen nutzen. Erst bei den Ende Juni/Anfang Juli anstehenden Neuwahlen für das Parlament und 2027 bei der Präsidentschaftswahl. Der Sprung in den Élysée-Palast soll der krönende Abschluss eines politischen Marathonlaufes werden. Dreimal trat die 55-Jährige für das höchste Amt im Staat an, dreimal scheiterte sie – aber zuletzt wurden die Abstände zu Macron immer geringer.
Le Pen baut auf die weitverbreitete Unzufriedenheit mit der Politik des Präsidenten, der 2027 nach zwei Amtszeiten nicht mehr antreten kann. Macron hat in den vergangenen Jahren erheblich an Kredit verloren: 2018 löste eine Steuererhöhung der Regierung auf Benzin und Diesel die Gelbwestenbewegung aus, 2023 sorgte ein späteres Renteneintrittsalter bei vielen Franzosen für Verdruss.
Die gelernte Juristin setzt auf eine Entteufelung („dédiabolisation“) des RN. Bei den Europawahlen 2014 ging die Partei noch mit Hardcoreparolen wie „Die Europäische Union zerstört, die Nation beschützt“ ins Rennen. Heute heißt es „Frankreich kommt wieder, Europa lebt wieder auf“. Die ursprüngliche Forderung eines Austritts aus der Europäischen Union (EU), der „Frexit“, wurde ebenso gekippt wie die der Wiedereinführung des Franc.
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Franzosen halten an EU-Mitgliedschaft ihres Landes und am Euro fest
Dahinter steckt vor allem wahltaktisches Kalkül. Die große Mehrheit der Franzosen hält an der Mitgliedschaft ihres Landes in der EU und am Euro fest. Der RN versucht, sich an die gesellschaftliche Realität anzupassen. Die Konturen bleiben freilich unscharf. Die von der Gemeinschaft ursprünglich angestrebte vertiefte Integration will Le Pen durch ein System der „Kooperation“ der Mitgliedstaaten ersetzen. Ziel ist die „Neufassung“ der EU-Verträge mit einem Minimaleuropa.
Auch beim Thema Grenzen hat Le Pen eine Korrektur vorgenommen. Vor zehn Jahren wollte der RN noch aus dem Schengen-Abkommen zur Abschaffung der Kontrollen an den EU-Binnengrenzen aussteigen. Jetzt verlangt die Partei eine nicht näher definierte „doppelte Grenze“, um den Schutz der nationalen und der europäischen Grenzen zusammenzuführen.
Das Verhältnis zu Moskau erfährt ebenfalls eine Generalüberholung. 2011 schwärmte Le Pen noch von einer „hochentwickelten strategischen Allianz“ mit Moskau. Nach der Invasion in der Ukraine buchstabiert das RN-Programm zum ersten Mal aus, dass „Russland gegen das Völkerrecht verstößt“. Doch bei den Abstimmungen im Europaparlament bleiben die RN-Abgeordneten der alten Nähe zu Russland treu: Sie votierten gegen die EU-Sanktionen und für die Beibehaltung der Gasimporte aus Russland. Le Pens Haltung bleibt nebulös. Es gilt die Devise: Keine Wähler in der Mitte verprellen.
Europa à la carte in Wahrheit ein Programm der Zerstörung der EU
Le Pen verordnete ihrer Partei nicht nur eine strategische Neubestimmung, sondern auch ein bürgerlicheres Image. Die 88 Abgeordneten in der Nationalversammlung wurden dazu verdonnert, täglich Anzug und Krawatte oder Kostüm zu tragen. Die Botschaft: Wenn der RN und seine Galionsfigur die Macht übernehmen, bricht im Land kein Chaos aus.
Und auch Le Pen selbst verpasste sich einen Stilwandel. Sie bemüht sich, nicht mehr als Polarisiererin aufzutreten und gibt sich volksnah. Sie läuft über Marktplätze, schüttelt Hände und teilt auf Videos ihre Liebe zu Katzen mit. Ohne Inszenierung funktioniert nichts mehr.
Die große Frage bleibt jedoch, wie viel Substanz hinter den programmatischen Weichmachern steckt. Kritiker werfen Le Pen vor, dass es ihr vor allem um wahltaktische Imagekosmetik gehe. Ihr Europa à la carte sei in Wahrheit ein Programm der Zerstörung der EU in ihrer heutigen Form.