Kiew. Im Kampf gegen Russland ist Kiew auf westliche Waffensysteme angewiesen – doch nicht alle erweisen sich als so hilfreich wie erhofft.

Nur zögerlich stellt der Westen der Ukraine in seinem Kampf gegen die russische Invasion schweres Kriegsgerät zur Verfügung. Zu groß ist die Sorge vor einer Eskalation mit Russland – und davor, aktiv in den Krieg hineingezogen zu werden. Erst nach zähen Verhandlungen gibt auch Deutschland grünes Licht für die Lieferung von Kampfpanzern. Inzwischen sind nicht nur deutsche Leopard-2 an der Front im Einsatz, sondern auch das Flugabwehrsystem Iris-T. Doch welche Waffensysteme haben sich für das angegriffene Land tatsächlich als effektiv erwiesen? Und was wird noch gebraucht? Ein ukrainischer Experte ordnet ein.

Kampfpanzer Leopard. Vor Beginn der Sommeroffensive sollen Kiew bis zu 71 Kampfpanzer Leopard des Typs 2A4 und 2A6 geliefert worden sein – darunter 18 Panzer aus Deutschland. Mehr als 80 Panzer dieser beiden Varianten wurden der Ukraine insgesamt zugesagt. Eigentlich sollten auch mehr als hundert Panzer des älteren Typs 1A5 hinzukommen, doch einige der bereits gelieferten Modelle befanden sich in derart schlechtem technischen Zustand, dass sie von den Ukrainern vorerst zu weiteren Reparaturen zurückgeschickt wurden. Das Magazin Forbes schätzte Ende August, dass bislang fünf von 71 Leopard-Panzern zerstört wurden, rund zehn weitere seien bei Kampfhandlungen beschädigt worden und befänden sich deshalb in der Reparatur.

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Was Oleksij Melnyk, früherer Oberstleutnant in der ukrainischen Armee und Leiter der Kiewer Denkfabrik Zentr Rasumkowa, aber für wesentlich wichtiger hält: Fast alle Besatzungsmitglieder der zerstörten Leoparden haben überlebt. „Die Überlebenschancen für die Besatzungen sind in einem modernen Leoparden sehr hoch“, sagt er dieser Redaktion. „In einem modernen russischen Panzer sind sie viel niedriger. Das muss man immer wieder betonen.“ Allerdings könne in einem modernen Krieg selbst der beste Kampfpanzer etwa mit einer billigen Drohne zerstört werden.

Flugabwehrsysteme Patriot und Iris-T erweisen sich als effektiv

Zudem, sagt Melnyk, seien Leopard-Panzer ursprünglich für das „Gefecht der verbundenen Waffen“ vorgesehen gewesen – ein militärstrategisches Konzept, bei dem sich unterschiedliche Waffengattungen ergänzen. „Bereits die ersten Wochen der Offensive zeigten jedoch sehr deutlich, dass das nur bedingt anwendbar ist, wenn der Gegner nicht per se unterlegen ist, sondern in einigen Bereichen sogar stärker.“ Statt viel Technik an einem Frontabschnitt zu konzentrieren, mussten die Ukrainer auf Angriffsversuche mit kleinen Gruppen umsteigen. „Die Vorteile der Leoparden konnten bisher nicht so deutlich demonstriert werden, was aber nicht bedeutet, dass deren Lieferung falsch war“, so der Experte. In Zukunft könnten sie dennoch gebraucht werden.

Flugabwehrsystem Patriot. Nach Beginn der Angriffe auf die ukrainische Energieinfrastruktur im vergangenen Winter sicherten die USA der Ukraine drei Flugabwehrsysteme Patriot zu – darunter auch eines aus Deutschland. Anfang Oktober versprach die Bundesregierung dem Land ein weiteres System. Patriot hat eindrücklich seine Effektivität gegen ballistische Iskander- und Kinschal-Raketen unter Beweis gestellt, was nicht als selbstverständlich galt. „Das war der erste Test für modernisierte Patriots“, erklärt Experte Melnyk. Mit Erfolg. In dem System zeige sich ein „großer Unterschied zum russischen Flugabwehrsystem S-400, das ballistische Raketen theoretisch auch abfangen sollte, damit auf der Krim aber versagt.“

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    Flubabwehrsystem Iris-T. Bislang hat Kiew zwei deutsche Flugabwehrsysteme Iris-T erhalten, ein weiteres soll in Kürze folgen. Insgesamt werden vier weitere Systeme geliefert. Und für die ukrainische Armee erweist sich IRIS-T als überaus nützlich. Zwar ist das System ungeeignet für die Abwehr von ballistischen Raketen, beim Abschuss von russischen Marschflugkörpern des Typs Kalibr oder Ch-55, zeigt IRIS-T jedoch eine Erfolgsquote von fast 100 Prozent. Weil Russland diese Waffen massiv einsetzt, um die Hauptstadt Kiew anzugreifen, trägt IRIS-T inzwischen enorm zum Schutz der Einwohner bei.

    Dennoch bleibt ein Problem: Die Ukraine ist flächenmäßig das größte vollständig in Europa liegende Land – und IRIS-T kann nur punktuell Schutz vor Raketen bieten, außerdem werden die Flugabwehrsysteme dringend nahe der Front gebraucht. „Man kann eine Stadt wie Kiew effektiv schützen, aber für die Ukraine insgesamt wird es immer viel zu wenige Flugabwehrsysteme geben“, erklärt Melnyk. „Ohne Kampfjets, die eine wichtige Rolle bei der Flugabwehr spielen, kann vom effektiven Schutz keine Rede sein.“

    Gegen Storm Shadows ist „die russische Flugabwehr machtlos“

    Marschflugkörper Storm Shadow/Scalp. Auch der britische Marschflugkörper Storm Shadow und das französische Analog Scalp mit einer Reichweite von mehr als 250 Kilometern haben sich für die Ukraine als Gewinn herausgestellt. Zwar ist unbekannt, wie viele Marschflugkörper Großbritannien geliefert hat – die Zahl dürfte bei etwas mehr als 50 liegen, über die zunächst in Bezug auf Frankreich spekuliert wurde. Aber Melnyk sieht in ihrem Einsatz einen „absoluten Triumph beim Einsatz gegen russische Logistik im Hinterland“. Gegen die Marschflugkörper sei die russische Flugabwehr machtlos, sagt er. Das Problem sei aber, dass die Ukraine über zu wenig umgebaute Su-24-Flugzeuge verfüge, von denen sie abgefeuert werden könnten. Sie seien schneller und mobiler, was einen Vorteil ausmache im Vergleich zu Bodenstartplattformen wie Himars, von denen aus ATACMS gestartet werden.

    Bei einer Demonstration in München fordern Unterstützer der Ukraine, dass Deutschland auch Taurus-Raketen an Kiew liefert.
    Bei einer Demonstration in München fordern Unterstützer der Ukraine, dass Deutschland auch Taurus-Raketen an Kiew liefert. © IMAGO/ZUMA Wire | IMAGO/Sachelle Babbar

    Ballistische Raketen ATACMS. Im Oktober erhielt die Ukraine erstmals ballistische ATACMS-Raketen mit der Reichweite von bis zu 165 Kilometern und einem Gefechtskopf mit Streumunition. Präsident Wolodymyr Selenskyj hat den Erhalt und Einsatz inzwischen bestätigt. Laut New York Times soll es sich bei den ersten 20 Raketen um eine Testlieferung gehandelt haben, der weitere Lieferungen folgen könnten. ATACMS können größere Flächen effektiv angreifen, was die erfolgreichen Schläge gegen die Flugplätze in den okkupierten Städten Berdjansk und Luhansk gezeigt haben. „Storm Shadow, ATACMS und Taurus sind Marschflugkörper und Raketen, die einander ergänzen“, sagt Melnyk. „Sie haben unterschiedliche Charakteristiken und werden alle gleichzeitig gebraucht.“

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    Während ATACMS viele Flugzeuge und Hubschrauber gleichzeitig zerstören könnten, seien Storm Shadows bei Schlägen gegen konkrete Objekte – etwa Munitionsdepots – sehr erfolgreich. Aber sie haben auch Schwächen, erklärt der Experte weiter. Zwar könnten auch diese Raketen die Krim-Brücke treffen und beschädigen, doch um sie dauerhaft unbenutzbar zu machen, seien Taurus-Raketen geeigneter. „Hätte man diese Waffen aber schon im Frühjahr zur Verfügung gehabt, hätten wir heute vielleicht völlig andere Ergebnisse“, kritisiert Melnyk. „Bei der Zerstörung der Logistik geht es um die grundsätzliche Vorbereitung des Schlachtfeldes für eine Operation – und die Ukraine hatte leider nicht alle Mittel dafür.“

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