Doch nur jeder vierte Bewerber schafft die Hürden für Heer, Marine oder Luftwaffe. Viele scheitern bei der Sportprüfung.
Bundeswehr? Warum nicht. Eine Uniform irritiert Michel Finn Heinemann nicht. Sie gehört für ihn zum Soldatenberuf, so wie ein Blaumann, die Rohrzange oder eine Bohrmaschine zu einem Handwerker. Der 17 Jahre alte Gymnasiast, der mitten im Abitur steht, will gern Ingenieurwesen oder Mechatronik studieren. Da kommt für ihn neben einer dualen Ausbildung die Armee infrage. Beim ersten Kontakt im Karriereberatungsbüro der Truppe lässt er sich zu einem Kurzbesuch in der Lüneburger Theodor-Körner-Kaserne überreden und salutiert schon einmal aus dem Wachhäuschen.
Die Bundeswehr als Arbeitgeber rückt stärker ins Blickfeld. Schon 2015 konnte der bundesweite Bedarf von 13.000 Soldaten zu fast 97 Prozent gedeckt werden – das beste Ergebnis seit zehn Jahren. Damit nicht genug. Mit der im November gestarteten 10,6 Millionen Euro teuren Kampagne „Mach, was wirklich zählt“ soll das Interesse mit Plakaten, Anzeigen und im Internet hoch gehalten werden. Allein das Karrierecenter Hannover, eines von 16 bundesweit, soll in diesem Jahr 11.000 statt zuvor 10.000 Bewerber bringen.
Für Frank Schulz, Berater in dem Hannover unterstellten Karriereberatungsbüro Lüneburg, bedeutet das ein von 500 auf 620 Köpfe aufgestocktes Kontingent. Er sieht das gelassen. „Wir haben schon 2015 immerhin 736 Bewerber angeworben“, sagt der Regierungsamtmann, der früher beim Bundesgrenzschutz diente. Von Lüneburg aus bearbeitet Schulz mit drei Kollegen die Stadt und fünf weitere Kreise, zu denen auch der Landkreis Harburg zählt.
Heinemann, der aus dem nahen Deutsch Evern kommt, will zunächst für neun Monate freiwilligen Wehrdienst leisten und dann entscheiden, wie es weitergehen soll. Für die Offizierslaufbahn müsste er sich zwölf Jahre verpflichten. Noch während des vierjährigen Studiums würde er zum Leutnant und damit zum Offizier befördert.
Neben Abiturienten, die oftmals über den freiwilligen Dienst erst einmal in den Alltag der 180.000-Mann-Armee schnuppern wollen, kommen Interessenten mit ganz unterschiedlichen Lebensläufen. „Die Bandbreite reicht vom Hauptschüler bis zum angehenden Studenten“, sagt Kapitänleutnant (Kaleu) Ralf Meyer, der das Karriereberatungsbüro in Hamburg leitet.
Beim Lüneburger Berater Stabsfeldwebel Mario Ehlert suchte zuletzt eine Dame mit Karategürtel den Weg zum Heer. Gestandenen Handwerksmeistern bietet die Bundeswehr auch jenseits der 40 noch die Möglichkeit, als Feldwebel einzusteigen. „Da sind wir flexibel, können kurzfristig einstellen“, sagt Meyer. Kein Wunder: Schließlich enden immer wieder Dienstzeiten nach vier, acht oder zwölf Jahren und damit eher und häufiger als bei zivilen Unternehmen.
Frauen unter den Bewerbern gelten als qualifizierter und streben meist zumindest eine Unteroffizierslaufbahn an, vor allem im Sanitätswesen. Viele spekulieren auf ein Medizinstudium. „Mit den Frauen kommt ein anderes Denken in die Truppe“, sagt Kaleu Meyer. Seit 2001, seitdem alle Laufbahnen für Frauen offen sind, hat sich ihre Zahl von 6500 auf 19.300 erhöht, das entspricht elf Prozent der Truppe. Zwei Ärztinnen sind Generalstabsärzte.
In der Tat herrscht in der Karriereberatung kein Personalmangel, vielmehr aber Fachkräftemangel, ähnlich wie im zivilen Bereich. Das Verhältnis zwischen Bewerbern und Einstellungen liegt bei 4:1. Nur jeden Vierten können Heer, Marine und Luftwaffe gebrauchen. Schon deshalb werden die Bewerber-Kontingente so hoch angesetzt. Oftmals mangelt es an der Rechtschreibung, am Ausdrucksvermögen beim Technikverständnis oder bei Mathematikkenntnissen. „Auch die Studierfähigkeit könnte besser sein“, weiß Meyer. Manchmal scheitert alles auch am Sporttest (siehe Extratext). „Pilot, Scharfschütze oder Arzt wollen viele werden“, sagt Berater Ehlert. „Doch wenn ich die Anforderungen nenne, wird es für viele rasch eng.“ Seine Aufgabe ist es, das Interesse in geeignete Bahnen zu lenken.
Wer genommen wird – und sei es nur für den freiwilligen Wehrdienst –, erhält gleich einen Sold zwischen 800 und 1000 Euro – netto. Er oder sie kann zwischen sieben und 23 Monaten wählen und trifft auf eine Truppe, in der sich der Umgangston merklich verbessert hat. Das sei eindeutig, wird im Karriereberatungsbüro versichert. Zumal die Bereitschaft zur Landesverteidigung weitgehend entfallen sei, Gammeldienst längst der Vergangenheit angehöre und die spezialisierte Truppe sich als Dienstleister und Logistiker für die vielfältigen Einsätze im In- und Ausland verstehe.
„Wir bieten außer dem Studium Aus- und Weiterbildung mit dem Ziel, dass die Soldaten nach ihrer Dienstzeit besser qualifiziert sind als zuvor“, sagt Berater Schulz. Die Verdienste steigen während der Jahre bei Soldaten auf Zeit auf 1580 Euro netto, Hauptfeldwebel liegen nach zehn Jahren bei 2500 bis 2600 Euro und Hauptmänner nach 13 Jahren bei rund 3000 Euro. Dazu kommen Zulagen nach Verwendung, Alter, Standort oder Familienstand, eine freie Heilfürsorge wie bei Beamten sowie auf Wunsch ein Bett in der Kaserne. Seit 1. Januar 2016 gilt die
41-Stunden-Woche.
Natürlich ist die Bundeswehr nicht die Insel der Glückseligen. Kürzlich hatte der Wehrbeauftragte Hans-Peter Bartels über zu wenig Personal geklagt, außerdem über eine „planmäßige Mangelwirtschaft“, Ausrüstungslücken beim Material, zu wenig finanzielle Mittel und nicht zuletzt Schimmelbefall und undichte Dächer in den Unterkünften. „Bei den Beratungen gehen wir damit offen und ehrlich um und verheimlichen nichts“, sagt Schulz.
Um die Realität zu zeigen, organisiert sein Kollege in Lüneburg, Stabsfeldwebel Frank Bischoff, zweimal im Jahr Truppenbesuche in Munster. Bei mehreren Truppengattungen wie Artillerie oder Panzern werden Stationen aufgebaut und den Interessenten ein typischer Tagesablauf gezeigt, den militärischen Ton eingeschlossen, den Bischoff angibt.
An diesen dreitägigen Demonstrationen nehmen jeweils rund 100 Interessenten teil. „Das Vorgehen lohnt sich für die Bundeswehr“, sagt Regierungsamtmann Schulz. Wer den Dienst erlebt und weiter Interesse hat, macht später kaum mehr einen Rückzieher.
Michel Finn Heinemann kommt jetzt von dem Gespräch mit Stabsfeldwebel Ehlert zurück. Der Mann im Grünzeug – Zugführer, Unteroffiziers-Ausbilder und Scharfschütze – hat ihn mit seiner Geschichte beeindruckt. Auch weil er viermal für mehrere Monate in Afghanistan war und dort kämpfen musste. Der 46-Jährige aus Lübeck weiß, wovon er spricht, und gibt das nun seit zwei Jahren als Berater weiter. Heinemann rät er, sich während des Wehrdienstes möglichst rasch für die Offizierslaufbahn zu bewerben. „Dann steigen die Chancen.“ Der junge Mann will entweder zum Heer oder zur Luftwaffe. Inzwischen hat er seine Bewerbung bei Ehlert abgegeben. Voraussichtlich zum 1. Oktober soll Heinemann bei der Bundeswehr einrücken – freiwillig: „Ich freue mich darauf und bin gespannt, wie es weitergeht.“ Ob alles in eine Karriere zum Offizier mündet, will er sich noch offenlassen. „Aber Interesse besteht.“