Interview mit Dr. Jens Baas über Qualität, das Honorar von Medizinern, die Finanzsorgen der privat Krankenversicherten und den Wechsel zu den Gesetzlichen.
Hamburg. Er hat als Chirurg und als Unternehmensberater gearbeitet. Jetzt leitet Dr. Jens Baas die Techniker Krankenkasse, mit rund neun Millionen Versicherten Deutschlands größte Kasse. Mit revolutionären Ideen will er das Gesundheitssystem umbauen.
Hamburger Abendblatt: Herr Dr. Baas, die Bundesregierung will, dass Ärzte und Krankenhäuser künftig auch danach bezahlt werden, wie gut sie Patienten behandeln. Was halten Sie davon?
Jens Baas: Die Qualität in den Vordergrund zu stellen, ist sinnvoll. Das Messen ist allerdings nicht einfach, denn Medizin ist keine Mathematik, und jeder Mensch ist anders. In der Summe ist die Qualität der Behandlung in Deutschland sehr gut. Aber es gibt auch Ausnahmen − wie in allen Bereichen des Lebens.
Wie kann man denn die Qualität bei Medizinern und Kliniken messen und dann noch ein Verfahren entwickeln, das die Bezahlung transparent und gerecht macht?
Baas: Erstens müssen wir uns fragen, was überhaupt Qualität ist, zweitens, wie man sie misst, erst drittens, wie man sie bezahlt. Es fängt schon bei der Indikationsstellung an, denn Qualität heißt auch: Muss der Herzkatheter überhaupt geschoben werden? Wie gut ist die Nachsorge? Wenn man relativ gesunden Patienten eine Hüfte einsetzt oder oder eine Katheter schiebt, wird man immer gute Ergebnisse bekommen. Die Bezahlung nach Qualitätskriterien darf daher nicht dazu führen, dass Kliniken dann später Patienten mit schweren Vorerkrankungen abweisen, weil es bei ihnen möglicherweise zu Komplikationen kommt, die wiederum zu Abschlägen bei der Bezahlung führen. Ich trete daher sehr dafür ein, dass wir kein Qualitätsgesetz bekommen, das nur Komplikationen misst.
Wer soll die Qualität beurteilen?
Baas: Die Ärzte und ihre Fachgesellschaften sind die Spezialisten. Die müssen die Mess-Systematik entwickeln ‒ auch wegen der Akzeptanz innerhalb der Ärzteschaft. Der Arzt darf nicht das Gefühl bekommen: Ich werde abgestraft, wenn ich einen besonders Kranken behandele. Zugleich müssen die Ärzte auch umdenken und sich an Vergleichsdaten orientieren. In den nordischen Ländern hat man vor vielen Jahren bereits ein Register mit Qualitätsberichten eingeführt. Die schlechten Krankenhäuser haben sich in kurzer Zeit verbessert. Wenn du als Arzt feststellst, bei dir sterben die Herzinfarktpatienten doppelt so häufig wie im Nachbarkrankenhaus, dann fängst du an zu überlegen, was schiefläuft.
Die Ärzte werden sagen: Solch ein System ist bürokratisch – und sie werden Angst haben, dass man ihnen etwas wegnimmt.
Baas: Die Angst kommt, aber sie ist unberechtigt. Wir wollen nur denen etwas wegnehmen, die schlechte Qualität liefern. Wer weit unterdurchschnittlich arbeitet, erhält Zeit, das zu verbessern. Aber wer dauerhaft schlechte Qualität liefert, bekommt gar nichts. Ich kann doch meinen Versicherten nicht sagen: Dieses Krankenhaus ist Mist oder jener Arzt hat schlechte Ergebnisse, aber dafür ist er billig, also geht da mal hin. Andersherum: Für sehr gute Qualität sollte man mehr bezahlen.
Die gesetzlichen Krankenkassen haben sich mit den Haus- und Fachärzten gerade verständigt, dass die Honorare um 800 Millionen Euro steigen. Trotzdem hat man den Eindruck, als würde das Geld falsch verteilt.
Baas: Wir fordern, dass man Ärzte anders bezahlt. Unser heutiges Vergütungssystem ist sehr an Pauschalen orientiert und führt dazu, dass Ärzte klagen, am Ende des Quartals kein Geld mehr zu bekommen, weil manche mehr Leistungen erbringen, als die Pauschale der gesetzlichen Krankenversicherung hergibt. Unerwähnt bleibt hier übrigens immer, dass es auch Behandlungsfälle gibt, bei denen es umgekehrt ist.
Die Ärzte verdienen gut, das ist auch richtig so, denn es ist ein hochqualifizierter und verantwortungsvoller Beruf. Aber ständig nicht zu wissen, was am Ende des Monates herauskommt, ist schon blöd. Wir wollen künftig die Einzelleistungen vergüten: Ein Arzt kriegt bezahlt, was er macht. Aber ein Anamnese-Gespräch über eine halbe Stunde muss auch so lange dauern. Niemand kann dann 40 dieser Gespräche am Tag abrechnen. Das alles geht aber nur in einem einheitlichen Vergütungssystem von privater und gesetzlicher Krankenversicherung.
Klingt revolutionär. Aber dazu müsste man nebenbei die private Krankenversicherung abschaffen.
Baas: Wenn ich etwas gegen die PKV sage, heißt es, ich wolle sie kaputtmachen. Das will ich nicht, ich will aber auf die absehbaren Probleme aufmerksam machen und dränge darauf, sie bald anzugehen. Die Privaten haben kein Mittel, um gegen die Kostensteigerung anzugehen. Sie können nur die Prämien erhöhen. Im Alter wollen viele Privatversicherte dann raus und in die Gesetzliche. Das geht heute aber nicht. Dabei drohen vielen wegen ihrer Krankenversicherungsprämien finanzielle Schwierigkeiten – und dieses Problem wird größer. Die Politik wird eingreifen müssen. Es ist ja auch für die Versicherungsunternehmen nicht schön, wenn öffentlich diskutiert wird, dass Tausende Kunden von Unternehmen XY ihre Prämien nicht mehr zahlen können.
Im Wahlkampf war das ein Thema, weil die SPD, vor allem Hamburgs Gesundheitssenatorin Cornelia Prüfer-Storcks, die PKV abschaffen wollte. Momentan gibt es für Ihre Ideen keine politischen Mehrheiten.
Baas: Lässt man die Beamten außen vor sind nur etwa fünf Prozent der Deutschen privatversichert. Vielleicht hält das System noch 20 Jahre. Aber wir müssen jetzt eingreifen, sonst geht das zu Lasten der gesetzlich Versicherten. Mein Vorschlag: Ab einem bestimmten Zeitpunkt nimmt die PKV keine Versicherten mehr auf. Wer in die Gesetzliche zurück will, muss das jederzeit tun dürfen. Die PKV könnte ihre Bestände noch 20 bis 30 Jahre halten, sie wären auch profitabel, denn man kann die Prämien ja risikogerecht kalkulieren. Die Altersrückstellungen der Wechsler müssten in einen Fonds fließen, aus dem eine Art Rente an die gesetzliche Krankenversicherung gezahlt würde. Dann hätte man das verfassungsrechtliche Problem der Enteignung gelöst. Und was die Beamten betrifft: Beihilfetarife können wir auch anbieten.
Die Ärzte würden jaulen, weil Sie ihnen die gut zahlenden Privatpatienten wegnehmen.
Baas: Parallel müsste man das oben erwähnte einheitliche Vergütungs-System einführen, das wäre eine der Voraussetzungen für einen einheitlichen Versicherungsmarkt. Wir reden von fünf, sechs Milliarden Euro mehr für die Ärzte. Der Arzt am Starnberger See mit vielen Privatpatienten würde weniger verdienen. Der Kinderarzt im Hamburger Problembezirk aber deutlich mehr.
Viele Experten sagen, in Deutschland würde grundsätzlich zu viel operiert. Und Vorsorgeuntersuchungen ohne Verdacht auf konkrete Erkrankungen, für die jedes Jahr Hunderte Millionen Euro ausgegeben werden, sollen nutzlos sein. Was sagt der Arzt in Ihnen dazu?
Baas: Man hat den Leuten jahrelang ein schlechtes Gewissen eingeredet. Eine schlechte Ehefrau, wenn sie ihren Mann nicht zur Prostata-Vorsorge schickt. Richtig wäre es, zu sagen: Früherkennung kann viel Nutzen stiften, sie kann aber auch zum Beispiel durch Strahlung Krankheiten auslösen. Sie kann zu unnötigen Behandlungen, zu Operationen führen, diese wiederum zu Komplikationen. Manchmal wird ein Tumor gesehen, der keiner ist. Die einen haben viel Angst vor einem Tumor. Andere sagen, ich würde mein Prostatakarzinom mit 80 Jahren sowieso nicht behandeln lassen.
Als Krankenkasse müssen wir die Versicherten in die Lage versetzten, die Vor- und Nachteile zu erkennen, um anschließend selbst entscheiden zu können. Ich bin gegen moralischen Druck durch wen auch immer. Prävention, also die klassische Gesundheitsförderung, ist ein anderes Feld. Auch Politiker sagen: Prävention rettet das Gesundheitswesen. Dabei gibt es kaum Studien, die belegen, dass Prävention Geld spart. Natürlich ist es gut, wenn jemand gar nicht erst krank wird. Bei ökonomischen Nutzen fällt einem vor allem eine Maßnahme ein: das Fluoridieren des Trinkwassers in der DDR, das war preiswert und nützlich für die Zähne. Kurz: Es ist gut und richtig, Prävention zu fördern, weil es Leid ersparen kann − aber nicht in der Illusion, damit Kosten zu sparen, schon gar nicht kurzfristig.
Sie haben offensichtlich wenig Vertrauen in das Wirken von Gesundheitspolitikern. Was halten Sie denn von der Termingarantie der Bundesregierung, damit Patienten innerhalb kürzerer Zeit einen Termin beim Augenarzt oder Orthopäden bekommen sollen?
Baas: Solch eine Vorschrift bringt nichts. Wie will man dem Arzt vorschreiben, dass er jetzt einen Termin vergeben soll? Kann man dadurch wirklich verhindern, dass der Privatpatient bevorzugt einen Termin bekommt?
Ein virulentes Thema ist die alternde Gesellschaft und die explodierenden Kosten für die Pflege, für alte und demente Menschen. Wie sieht denn die nächste Pflegereform aus?
Baas: Wenn man ehrlich ist, wird es für alle teurer werden. Man muss Pflegekräfte finden und sie besser bezahlen. Wir können keine Roboter einsetzen, wir brauchen Menschen. Kein Reformtrick wird die demografischen Probleme lösen. Gute Pflege kostet.