Beide sind in Hamburg geboren – doch Helmut Schmidt und Angela Merkel könnten unterschiedlicher kaum sein. An diesem Donnerstag ist Merkel länger im Amt, als Schmidt es war. Etwas haben sie doch gemeinsam.
Berlin/Hamburg. Das Porträt von Helmut Schmidt hängt an fünfter Stelle an einer großen Steinwand im Kanzleramt. Der Maler Bernhard Heisig zeigt ihn in typischer Pose: Arm aufgestützt, Zigarette in der Hand. Zu seiner Rechten die Bilder der Kanzler vor ihm: Adenauer, Erhard, Kiesinger, Brandt. Zu seiner Linken seine Nachfolger Kohl und Schröder. Für Nummer acht in der Riege der bisherigen Bundeskanzler gibt es noch kein Gemälde. Angela Merkel regiert noch.
An diesem Donnerstag ist sie länger als Schmidt im Amt und damit länger als alle drei SPD-Kanzler. „Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen“, hat Schmidt vor ein paar Jahrzehnten einmal – verärgert über eine seiner Ansicht nach dusselige Journalisten-Frage – von sich gegeben und wurde seither wohl tausendfach damit zitiert.
Er spielte damals aber nicht auf politische Ziele, sondern auf Halluzinationen an. Man darf annehmen, dass Merkel nicht in Schmidts Sinne zum Doktor muss. Darin ähneln sie sich: norddeutsch nüchtern, pragmatisch, krisenfest. Für Merkel erfüllte sich aber eine Vision, die sie selbst nie hatte.
Nicht im Traum hätte die Physikerin in der DDR daran gedacht, dass sie einmal Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland sein würde. Wie Schmidt ist sie in Hamburg geboren, aber aufgewachsen in Brandenburg. Als er 1974 Kanzler wurde, war sie gerade 20 Jahre alt und studierte in Leipzig Physik. Während Schmidt über den Nato-Doppelbeschluss verhandelte, schrieb Merkel an ihrer Diplomarbeit „Der Einfluß der räumlichen Korrelation auf die Reaktionsgeschwindigkeit bei bimolekularen Elementarreaktionen in dichten Medien“.
Erst nach dem Mauerfall ging Merkel in die Politik. Und nun ist sie seit mehr als acht Jahren und vier Monaten in der dritten Legislaturperiode Bundeskanzlerin. Am 10. April sind es 3062 Tage, ein Tag mehr als Schmidt im Amt war. Er ist heute 95, sie 59 Jahre alt. Schmidt wurde am 1. Oktober 1982 von dem CDU-Politiker Helmut Kohl mit einem Misstrauensvotum gestürzt. Merkel ist auf dem Höhepunkt ihrer Karriere. Dass sie sich schon im nächsten Jahr, zur Halbzeit der Wahlperiode, aus freien Stücken aus dem Amt zurückzieht, wie ein Journalist vor einem Jahr schrieb, gilt als ausgeschlossen.
Der CSU-Vorsitzende Horst Seehofer geht ganz sicher sogar von einer vierten Kanzlerkandidatur Merkels 2017 aus. Und ob Scherz, ob Ernst, findet er, dass sie mit jetzt gut acht Jahren erst die Hälfte ihrer Amtszeit hinter sich habe. 16 Jahre Kanzlerschaft, das hat in der Bundesrepublik bisher nur Kohl vollbracht, der zwei Jahre länger regierte als Konrad Adenauer. 2809 Tage müsste Merkel noch Kanzlerin sein, um Kohl zu übertrumpfen. Was sie plant oder wovon sie träumt, verrät sie nicht.
Nach außen keine Gefühle, privat sehr schlagfertig
Ihr Privatleben hat Merkel lange hermetisch abgeschottet. Keine Homestorys, selten gemeinsame Auftritte mit ihrem Mann, dem Chemieprofessor Joachim Sauer, keine Äußerungen über ihre Mutter oder ihre beiden Geschwister, nach außen keine Gefühle, keine Witze. Dabei hat Merkel viel Humor. Sie ist schlagfertig und selbstironisch.
Im Wahlkampf 2013 lockerte sie diese Abriegelung etwas. Je mächtiger sie wurde, desto größer wurde auch ihre Traute, etwas von sich preiszugeben. Seit einer Veranstaltung der Frauenzeitschrift „Brigitte“ im vorigen Mai weiß man von Merkels „gewissen kamelartigen Fähigkeiten“, die sie in die Lage versetzen, Koalitionsverhandlungen oder EU-Gipfel nächtelang auch ohne Schlaf durchzuziehen. Wie ein Kamel verfüge sie über eine Speicherfähigkeit, sagte sie damals.
Für Merkel war es ein Auf und Ab in der Popularität
Man erfuhr auch, dass sie an Männern schöne Augen mag und Frauen in der Politik nicht immer nett zueinander sind. Und, dass sie ihre Nachfolge im Kanzleramt und an der Spitze der CDU „vielen“ zutraue. Wem, sagte sie nicht. Im CDU-Präsidium heißt es: „Wir haben derzeit auch nicht das Bedürfnis nach einem anderen Gesicht.“ Für die Partei läuft es seit langem gut mit der Frontfrau Merkel. Das wollen auch jene bewahren, die sie bei ihrer ersten Wahl zur Vorsitzenden im Jahr 2000 für nichts Größeres als eine Übergangskandidatin hielten.
Unter ihr hat sich die CDU weit in die Mitte bewegt und damit bei der Bundestagswahl 41,5 Prozent der Stimmen gewonnen. Die CDU werde aber immer beliebiger und verliere an konservativem Profil, beklagen ihre wenigen Kritiker in der Partei. „Merkels Toleranzbreite ist groß“, heißt es dagegen anerkennend aus dem Kreis der Landesvorsitzenden.
Merkel hat es allen gezeigt. Den Männern in ihrer Partei. Kohl, Koch, Merz, Wulff. Den US-Präsidenten Bush und Obama. Und irgendwie auch Putin, der wegen seiner Annexion der Krim aus dem Kreis der Staats- und Regierungschefs der führenden Industrienationen geworfen wurde.
Die Wahl von Gauck zum Bundespräsidenten war eine Schlappe für sie
Sie steckt Schlappen wie die gegen ihren Willen 2012 von der FDP durchgesetzte Nominierung Joachim Gaucks zum Bundespräsidenten weg. Sie lässt Härte walten wie bei der Entlassung von Umweltminister Norbert Röttgen und sie meistert Krisen – als Generalsekretärin in der CDU-Spendenaffäre oder als Kanzlerin in der globalen Finanzmisere. Das trug ihr den Ruf ein, eiskalt sein zu können.
„Unter Nervenschwäche leidet sie jedenfalls nicht“, sagt ein Politiker, der Merkel seit Beginn ihrer Kanzlerschaft am 22. November 2005 aus nächster Nähe erlebt. Und er verweist darauf, dass die SPD nach ihrer ersten Koalition mit Merkel auf 23 Prozent abstürzte und die FDP nach vier Jahren Schwarz-Gelb aus dem Bundestag flog. Er ist gespannt darauf, wie es SPD-Chef Sigmar Gabriel 2017 ergehen wird.
Derzeit scheint nichts und niemand Merkel etwas anhaben zu können. Die Union liegt in Umfragen weiter bei über 40 Prozent, obwohl die SPD in den ersten Regierungsmonaten dieser zweiten schwarz-roten Koalition unter Merkel die Themen setzte. Sie lässt sich Zeit mit Entscheidungen. Streitfragen klärt sie unter sechs Augen mit Seehofer und Gabriel. Die Minister müssen die Vorgaben dann umsetzen.
Kritiker bemängeln Merkels Führungsstil
Und, hat Merkel nun eine Vision für sich oder das Land? Man weiß es nicht. Sie ist keine große Rednerin. In Regierungserklärungen zählt sie oft Beschlüsse auf oder wirbt für ihre Position, erklärt die Sachverhalte den Bürgern mitunter aber nicht näher. „Pathos kann sie nicht“, heißt es in der Union. „Sie chloroformiert ihr Publikum“, beklagt der Publizist Roger Willemsen.
Ein politischer Wert begleitet Merkel aber seit Jahren: Stabilität. Stabile Wirtschaftsdaten, gefestigter Arbeitsmarkt, sichere Verhältnisse. Das ist solide und seriös, klingt aber nicht visionär und kann auch nicht die Probleme in Schulen, die Sorgen von Hartz-IV- Empfängern, Ungleichbehandlung von Homosexuellen oder die Kritik an den massiven deutschen Rüstungsexporten ausblenden.
Doch Deutschland steht im internationalen Vergleich bestens da. Insofern hat Merkel ihr Ziel schon erreicht. Und insofern fragen sich Unionsanhänger, ob Merkels Bilanz besser werden kann, wenn sie länger regiert.