Nach hartem Wahlkampf stimmt die Ex-Sowjetrepublik Ukraine über ein Parlament ab. Für die Opposition steigt Boxer Klitschko in den Ring.
Kiew. Verzweifelt ruft die ukrainische Oppositionsführerin Julia Timoschenko aus der Haft zur „Abwahl der Regierungsmafia“ bei der Parlamentswahl an diesem Sonntag auf. Ihr Erzfeind, Präsident Viktor Janukowitsch, sei ein „Diktator“. Die Opposition hingegen führe „Krieg gegen die Ungerechtigkeit“, lässt die kranke Timoschenko kurz vor der Abstimmung aus einer Klinik in Charkow mitteilen.
Die 51-Jährige darf wegen einer umstrittenen siebenjährigen Haftstrafe nicht kandidieren. In dem für die EU wichtigsten Transitland für russisches Gas geht es um eine Entscheidung zwischen der Opposition um Boxweltmeister Vitali Klitschko und der Führung um Janukowitsch.
Klitschko kämpft verbissen um die Macht. „Ich träume von einer Ukraine als Teil der europäischen Familie“, sagt der 41-Jährige am Rande seines letzten Wahlkampfauftritts in Kiew der Deutschen Presse-Agentur. „20 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs wollen wir dorthin, wo unsere tschechischen und polnischen Nachbarn bereits sind“, ruft er den Anhängern seiner Partei Udar (Schlag) zu. Beobachter gehen davon aus, dass sich Klitschko damit auch warmläuft für eine Bewerbung bei der für 2015 geplanten Präsidentenwahl.
Umfragen sehen die Regierungskoalition um Janukowitsch bei der Parlamentswahl am Sonntag knapp vorne. Schon jetzt aber ist klar, dass nach der Abstimmung eine starke Opposition im Abgeordnetenhaus sitzen wird. Dies unterscheidet das zweitgrößte Flächenland Europas von den meisten Nachfolgestaaten der früheren Sowjetunion, in denen Regierungsgegner keinerlei Gestaltungsspielraum besitzen.
Beim wichtigen Partner Europäische Union ist das Image der Ukraine trotzdem am Nullpunkt angelangt. Der Westen schimpft besonders über das als politisch empfundene Timoschenko-Urteil. Die EU verweigert deswegen die Ratifizierung eines Assoziierungsvertrags.
„Alle Umfragen zeigen, dass die Opposition mit Timoschenko sehr viel mächtiger wäre“, meint der Politologe Wadim Karassjow. Dies verstärke den Eindruck, dass Janukowitsch hinter der Verurteilung stecke. Der Streit überschattet schon jetzt die Präsidentschaft der renommierten Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), die die Ukraine 2013 als zweite Ex-Sowjetrepublik übernimmt.
Insgesamt 36,6 Millionen Wahlberechtigte sind an diesem Sonntag aufgerufen, die 450 Mandate in der Obersten Rada neu zu vergeben. 21 Parteien treten an, um die Fünf-Prozent-Hürde zu überwinden. Daneben bewerben sich rund 2600 Direktkandidaten. Außer Klitschko setzt auch die kleine Partei Ukraine – Vorwärts! mit Ex-Fußballstar Andrej Schewtschenko auf einen Sportler.
Aufwendig ließ die Regierung für umgerechnet 100 Millionen Euro in insgesamt 33 755 Wahllokale Webkameras einbauen – „um Fälschungen zu verhindern“, wie die Wahlkommission betont. In der Ukraine waren zuletzt Wahlen von der OSZE stets als frei und fair anerkannt worden. Auch dies unterscheidet das Land von fast allen Ex-Sowjetrepubliken.
Die prowestliche Opposition beklagt aber schmutzige Tricks. Janukowitschs Partei der Regionen nutze den Regierungsapparat für den Wahlkampf, schimpft Udar-Sprecherin Irina Geraschtschenko. So seien in einem Kiewer Obdachlosenheim mit 150 Plätzen fast 700 Wahlberechtigte registriert. Die OSZE kritisiert kleinere Verstöße, unterstreicht aber auch, dass in Medien und bei Straßenwerbung jeder Partei Raum zur Selbstdarstellung gegeben werde.
In der mit Härte ausgetragenen Auseinandersetzung bekommen die Ukrainer aber keine Antwort auf die wichtigste Frage: Wohin steuert das politisch gespaltene Land? Die im wirtschaftlich schwächeren Westen verankerte Opposition will die Ukraine in die EU führen. Janukowitschs Partei dagegen, die vom bevölkerungsstarken russischsprachigen Osten des Landes gestützt wird, will auch auf Moskaus Interessen eingehen. Die Wiedereinführung von Russisch als zweiter Amtssprache in zahlreichen Regionen steht als Sinnbild dafür.