Die angeklagte Verena Becker ist erkrankt. Um den früheren Terroristen Boock ranken sich schillernde Legenden. Wie hält er's mit der Wahrheit?
Stuttgart. Im Stuttgarter RAF-Prozess um den Mord an Generalbundesanwalt Siegfried Buback ist die geplante Vernehmung des ehemaligen Terroristen Peter-Jürgen Boock vorerst geplatzt. Der Grund: Die angeklagte frühere RAF-Terroristin Verena Becker erschien am Dienstagmorgen krankheitsbedingt nicht zur Hauptverhandlung. Der Vorsitzende Richter Hermann Wieland sagte, die Hauptverhandlung könne deshalb nicht durchgeführt werden. Becker habe den Angaben zufolge eine fiebrige Bronchitis mit allergischen Reaktionen und Herzbeutelbeschwerden, sagte Wieland. Sie sei schon auf dem Weg zum Flughafen gewesen, habe dann aber gemerkt, dass sie „krankheitsbedingt den Tag nicht durchstehen“ könne. Ob der Prozess wie geplant am Donnerstag fortgesetzt werden könne, sei offen.
Die Bundesanwaltschaft wirft der 58-jährigen Becker vor, maßgeblich an der Entscheidung für den Mordanschlag auf Buback, an der Planung und Vorbereitung des Attentats sowie der Verbreitung der Bekennerschreiben mitgewirkt zu haben. Boock war ordnungsgemäß vor dem Oberlandesgericht (OLG) Stuttgart als Zeuge erschienen. Er sollte über die „Organisation der RAF“ und die „Planung, Vorbereitung und Durchführung der ,Offensive 77'“ aussagen. So hatte die RAF ihre Anschlagsserie des Jahres 1977 benannt, bei der Buback, der Dresdner-Bank-Chef Jürgen Ponto und Arbeitgeberpräsident Hanns-Martin Schleyer ermordet wurden.
Boock selbst war wegen Beteiligung an der Entführung von Schleyer und am Anschlag auf Ponto zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt worden. Er saß bis 1998 in Haft. Schon 1980 hatte er sich von der RAF losgesagt. Boock gehörte zum innersten Zirkel der RAF und sorgte für Sprengstoff sowie die nötige Technik. Bei der Aufarbeitung der blutigen Terrorgeschichte vor den Gerichten hat er eine verwirrende eigene Sicht der Dinge präsentiert. Seine Frau Waltraud soll ihm „ein taktisches Verhältnis zur Wahrheit“ bescheinigt haben. In verschiedenen Talkshows hatte er seine Sicht der Dinge präsentiert. Fast alle ehemaligen RAF-Angehörige haben ein sogenanntes Schweigegelübde abgelegt und sich nie konkret zu den Vorwürfen geäußert. Der Nebenkläger Michael Buback will Gewissheit darüber, wer seinen Vater erschoss.
Boock legte 1992 seine „Lebensbeichte“ ab, um reinen Tisch mit seiner Vergangenheit zu machen. Aber er nannte auch damals nicht Ross und Reiter. Den „Loslösungsprozess“ von der RAF müsse jeder selbst machen, erläuterte Boock im Mai 1992 in Stuttgart-Stammheim als Zeuge im Prozess gegen die früheren RAF-Mitglieder Sigrid Sternebeck und Baptist Ralf Friedrich.
In eigener Sache nahm es der 1951 in Nordfriesland geborene Boock jedoch nicht so genau mit der Wahrheit: „An meinen Händen klebt kein Blut“, schrieb der 1981 festgenommene Terrorist in sein Gnadengesuch an Bundespräsident Richard von Weizsäcker. Nachdem die in der DDR untergetauchten RAF-Terroristen nach dem Mauerfall ihre Aussagen zu Protokoll gegeben hatten, gestand Boock aber dann 1992, dass er am 5. September 1977 am Straßenrand stand und ein Schnellfeuergewehr in einem Kinderwagen versteckt hatte, als in Köln Hanns-Martin Schleyers Wagenkolonne überfallen wurde. Im Kugelhagel, den er und die anderen Attentäter auslösten, starben damals vier Menschen. Das Gnadengesuch nahm Boock nach der „Beichte“ zurück. 1998 wurde er entlassen.
Mit 15 Jahren hatte Boock an seiner Realschule eine linke Schülerorganisation gegründet. Schon 1967 wollte er weg aus der Enge einer Reihenhauskolonie am Hamburger Stadtrand. Mit dem Fahrrad radelte er zu seinem Onkel – nach Dessau in der damaligen DDR. Das Arbeiter- und Bauernparadies konnte mit dem jungen Mann nichts anfangen und schickte ihn zu den Eltern zurück.
Seine Schlosserlehre brach der labile Boock ab, er nahm Drogen, kam ins Jugendheim und lernte dort 1969 unter anderem Gudrun Ensslin sowie Andreas Baader kennen. 1976 rückte Boock in den „inneren Zirkel“ der RAF auf: Beim Mord an Jürgen Ponto fuhr er den Fluchtwagen, beim versuchten Anschlag auf die Bundesanwaltschaft installierte er einen funktionsfähigen Raketenwerfer, auch bei einem blutigen Banküberfall in Zürich war er dabei.
Nach der Schleyer-Entführung tauchte Boock in Bagdad unter und rutschte immer mehr in die Drogensucht. Für seine „Mitkämpfer“ wurde er zunehmend zum Problem: Einige RAF-Mitglieder wurden bei dem Versuch festgenommen, für den angeblich an einer Darmerkrankung leidenden Boock Rauschgift zu beschaffen. Erst während einer zeitweiligen Inhaftierung in Jugoslawien gelang ihm der Entzug. Der Banküberfall in Zürich im November 1979 war seine letzte Terroraktion: Zwei Monate später setzte er sich von der RAF ab – seine Waffe nahm er mit.