Vier Tage nach dem Amoklauf von Jared Loughner wandte sich der US-Präsident an die Nation - und kritisiert den Niedergang der Streitkultur.
Tucson. Der Präsident besuchte die Verletzten von Tucson, sprach mit den Hinterbliebenen der Toten, dann wandte er sich an die verwundete Nation. Barack Obama tröstete, mahnte, rief angesichts des harten innenpolitischen Klimas zu Besinnung auf. Vor Millionenpublikum nutzte der US-Präsident seine Rede auf der Trauerfeier nicht nur, um die Opfer des Attentats zu würdigen. Obama forderte die gespaltene Nation zu Versöhnung auf, zum zivilen Umgang trotz aller politischen Differenzen. „Wenn diese Tragödie zum Nachdenken und Diskutieren anstößt, dann müssen wir uns jenen als würdig erweisen, die wir verloren haben“, sagte er.
In gewisser Weise konnte Obama in Tucson an jene Rolle anknüpfen, mit der er im Wahlkampf so viel Anklang fand, die er als Präsident bislang aber noch nicht auszufüllen wusste: Er präsentierte sich als Versöhner, der die Gemeinsamkeiten über die politischen Lagergrenzen hinweg beschwört. „In einer Zeit, in der unsere Debatten so scharf geworden sind, in der wir viel zu leichtfertig den Andersdenkenden die Schuld für die Übel dieser Welt vor die Füße werfen, ist es für uns wichtig, einen Moment innezuhalten und sicherzustellen, dass „wir auf eine Weise miteinander sprechen, die heilt, nicht verletzt“, sagte Obama.
Das Attentat von Tucson, bei dem ein Schütze die Kongressabgeordnete Gabrielle Giffords schwer verletzt und sechs Menschen getötet hatte, hat die USA tief verunsichert. Die Frage steht im Raum, ob sich der mutmaßliche Attentäter Jared Loughner von der polarisierten politischen Auseinandersetzung zu seiner Bluttat gegen die Politikerin hat hinreißen lassen. Gerade aus dem politischen Lager des Präsidenten wurden Vorwürfe an die Rechte laut, mit übermäßiger Kritik an Obama ein Klima des Hasses zu schaffen, in dem Gewaltphantasien gedeihen.
Obama warnte in Tucson freilich vor jedem Versuch, dass Attentat politisch zu instrumentalisieren. „Wir dürfen diese Tragödie nicht zum Anlass nehmen, uns wieder gegeneinander zu wenden“, sagte er. „Statt für Schuldzuweisungen sollten wir diesen Anlass nutzen, unsere moralischen Vorstellungen zu erweitern, einander besser zuzuhören und unsere Instinkte für Mitgefühl zu schärfen.“ Obama warnte vor „einfachen Erklärungen“. Niemand wisse, „was zu dieser schrecklichen Tat geführt hat, welche Gedanken im tiefsten Inneren eines gewalttätigen Mannes gereift sind“.
Auch wenn er keine direkte Verbindung zwischen dem Parteienstreit und dem Attentat herstellen wollte, stellte der Präsident der politischen Klasse insgesamt ein schlechtes Zeugnis aus. Er beklagte „politische Phrasendrescherei, das Schielen auf Vorteil, die Kleinlichkeit“. Immer wieder kam er in der Rede auf seine Kernbotschaft zurück: Haltet Maß, lasst Vernunft walten, respektiert euch. „Nur ein zivilerer und ehrlicherer öffentlicher Diskurs kann uns helfen, unsere Probleme als Nation anzugehen“, sagte er. „Wir können vielleicht nicht alles Übel der Welt entfernen, aber wie wir uns gegenseitig behandeln, liegt doch an uns selbst.“
Die rund 14.000 Zuhörer in der Uni-Sporthalle von Tucson bedachten Obamas Appelle immer wieder mit lautem Applaus und stehenden Ovationen. Der gedämpfte Ton der Trauerfeier wich, an seine Stelle traten Jubelrufe – diese fielen besonders laut aus bei Obamas Mitteilung, dass die schwer verletzte Abgeordnete Giffords am Mittwoch erstmals ihre Augen geöffnet hat: „Sie weiß, dass wir heute hier sind, sie weiß, dass wir sie lieben.“ Neun Minuten hatte Obama zuvor im Krankenhauszimmer der verletzten Parteifreundin verbracht.