Irina Chalip berichtete gerade vom „brutalen Vorgehen“ der Polizei, als sie selbst abgeführt wurde. Lukaschenko bekam 80 Prozent – offiziell.
Minsk/Hamburg. Es war ein Schlag ins Gesicht der Medienfreiheit und der Demokratie: Bei den Protesten gegen die Präsidentenwahl im autoritären Weißrussland ist auch die prominente regierungskritische Reporterin Irina Chalip verschleppt worden. In einem Live-Interview im Radio-Sender Echo Moskwy berichtete sie gerade von dem „brutalen Vorgehen“ der Polizei, als sie selbst gewaltsam abgeführt wurde. „Oh, sie zerren mich weg. Was um Himmels willen tun sie denn“, schrie sie während ihres per Telefon abgesetzten Augenzeugenberichts. „Mich schlägt die Polizei“, rief sie noch mit schmerzverzerrter Stimme, bevor die Verbindung abbrach.
Seither fehle jeder Kontakt zu der Reporterin der oppositionellen russischen Zeitung „Nowaja Gaseta“, berichtete Echo Moskwy. Die mit internationalen Preisen ausgezeichnete Chalip ist die Ehefrau des oppositionellen weißrussischen Präsidentenkandidaten Andrej Sannikow. Der Politiker war ebenfalls verprügelt und festgenommen worden. Bei den Protesten nach der Präsidentenwahl in Weißrussland wurden am Sonntag mindestens zehn Medienvertreter verletzt. Sie hatten berichtet, dass die Polizei die friedliche Demonstration gegen „Wahlfälschungen“ gewaltsam aufgelöst hatte. In der von Zensur und Behördenwillkür bestimmten weißrussischen Medienlandschaft arbeiten nur wenige unabhängige Journalisten, oft unter Lebensgefahr. Die russische Zeitung „Nowaja Gaseta“ berichtet auch über das autoritäre Weißrussland. Viele ihrer Reporter wurden Opfer von Gewalt – wie etwa die kremlkritische Journalistin Anna Politkowskaja, die 2006 vor ihrer Moskauer Wohnung erschossen wurde.
Der bei den Protesten gegen die Präsidentschaftswahl in Weißrussland verletzte Oppositionskandidat Wladimir Nekljajew ist nach Angaben von Aktivisten gewaltsam aus einem Krankenhaus gebracht worden. Unbekannt in Zivil hätten ihn in einer Decke seines Krankenhausbettes weggetragen. Seine schreiende Frau sei in einen Nachbarraum gesperrt worden, sagten die Aktivisten. Wo sich Nekljajew derzeit aufhält, ist nicht bekannt. Seine Frau hatte zuvor berichtet, dass Bereitschaftspolizisten den Politiker gezielt angegriffen hatten. Dieser habe einen Marsch Hunderter Anhänger angeführt, der von der Polizei gewaltsam gestoppt worden sei. Ihr Mann sei am linken Auge verletzt worden, seine Nase habe geblutet und er habe über Übelkeit geklagt, sagte Olga Nekljajewa. Außerdem habe Nekljajew nicht sprechen können, er sei von einer Ambulanz ins Krankenhaus gebracht worden. Zwei weitere Kandidaten waren ebenfalls bei Zusammenstößen mit Sicherheitskräften verletzt und festgenommen worden.
Im Zentrum von Minsk warfen bis zu 40.000 Demonstranten dem Präsidenten Alexander Lukaschenko Wahlbetrug vor. Einige Teilnehmer der Kundgebung versuchten erfolglos, ein Regierungsgebäude zu stürmen, in dem sich die Wahlkommission aufhielt. Am Abend kreisten Polizisten rund 2000 verbliebene Demonstranten auf dem Unabhängigkeits-Platz ein.
Es war die größte Kundgebung von Oppositionellen seit 1996. Nach Schließung der Wahllokale hatten sie sich trotz der Androhung von Gewalt bei Minusgraden auf dem zentral gelegenen Oktober Platz versammelt. Dort waren bereits nach der manipulierten Präsidentenwahl vor viereinhalb Jahren weißrussische Oppositionelle auf die Barrikaden gegangen. Dieses Jahr hatten die Behörden fast das gesamte Areal geflutet und in eine Eisbahn verwandelt, aus Lautsprechern dröhnte Popmusik.
Es sollen rund 1000 Menschen festgenommen worden sein. Das berichteten unabhängige weißrussische Journalisten. Die USA und die Europäische Union verurteilten das gewaltsame Vorgehen gegen die Demonstranten. Die Wahlleitung in Minsk sprach Lukaschenko 79,67 Prozent der Stimmen zu. Das war etwas weniger als die 82,6 Prozent der Stimmen, die der autoritäre Politiker 2006 erhalten hatte. Die Wahlbeteiligung wurde mit mehr als 90 Prozent angegeben.
Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) sieht bei der der Präsidentenwahl in Weißrussland demokratische Fortschritte, obgleich von freien und fairen Wahlen noch keine Rede sein könne. Der „Neuen Osnabrücker Zeitung“ sagte der CDU-Bundestagsabgeordnete und OSZE-Wahlbeobachter Georg Schirmbeck: „Weißrussland ist auf dem richtigen Weg, aber noch lange nicht am Ziel.“ Der langjährige Amtsinhaber Alexander Lukaschenko habe seine Wiederwahl durch „seine autoritäre Kontrolle der Massenmedien abgesichert, die der Opposition während des Wahlkampfes kaum eine Plattform bieten durften“. Schirmbeck betonte zugleich, dass der direkte Wahlvorgang am Sonntag nicht zu beanstanden gewesen sei. „Die Vorwürfe der Opposition, Lukaschenko habe Wahlbetrug begangenen, kann ich – so leid es mir tut – so nicht bestätigen.“
Der Weißrussland-Experte der CDU-Bundestagsfraktion sprach sich für eine engere politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit der Europäischen Union mit Weißrussland aus. „Wir sollten von Lukaschenko nicht nur weitere Reformen einfordern, sondern Weißrussland bei dem schwierigen Transformationsprozess aktiv unterstützen“, sagte Schirmbeck.