Damals umstritten, nach 40 Jahren bewundert: Der Kniefall von Willy Brandt leitete eine neue Ostpolitik ein. Im positiven Sinne eine „unerhörte Tat“.
Berlin. Zehn Sekunden, 20 Sekunden, eine halbe Minute. Vielen der fröstelnden Zuschauer, die an dem kalten und grauen Montag in Warschau dabei sind, stockt der Atem. Sie werden Zeugen eines historischen Ereignisses. Als erster deutscher Kanzler seit dem Zweiten Weltkrieg ist Willy Brandt an diesem 7. Dezember 1970 in die polnische Hauptstadt gekommen. Der Vertrag, mit dem die Bundesrepublik die Oder-Neiße-Linie als Westgrenze Polens anerkennt, soll unterzeichnet werden.
Die Kolonne macht Halt vor dem Ehrenmal für den Aufstand im jüdischen Ghetto von 1943, in das die Nazis eine halbe Million Juden gepfercht hatten. Brandt legt den Kranz für Opfer nieder, zupft die schwarz-rot-goldene Schleife zurecht und tritt einige Schritte zurück. „Dann kniet er, der das nicht nötig hat, für alle, die es nötig haben, aber nicht knien“, beschreibt später ein Augenzeuge die Szene.
Brandt verharrt schweigend auf dem nassen Boden. Das Gesicht ist bewegungslos, der Ausdruck starr, der Blick weit in die Ferne gerichtet, als er sich mit einem Ruck wieder erhebt, so berichteten Umstehende. Niemandem hatte Brandt diesen Kniefall, der zum Symbol der neuen Ostpolitik der sozial-liberalen Koalition werden soll, vorher angekündigt. „Immer wieder bin ich gefragt worden, was es mit dieser Geste auf sich gehabt habe. Ob sie etwa geplant gewesen sei? Nein, das war sie nicht“, versichert Brandt später in seinen Memoiren. Seinem engsten Vertrauten Egon Bahr sagt er an dem Abend des Tages in Warschau: „Ich hatte das Empfinden, ein Neigen des Kopfes genügt nicht.“
Und für seinen ebenso überraschten Kanzleramtschef Horst Ehmke steht fest: „Der Ort selber, an dem ihm die Worte fehlten, gab ihm die um Vergebung bittende Geste ein.“ Bei den Gastgebern herrscht zunächst Ratlosigkeit. Dem kommunistischen Regime ist der Kniefall suspekt. Das Foto vom knienden Brandt geht am nächsten Tag um die ganze Welt, doch in den polnischen Medien wird es verschwiegen. Bis heute hat sich gerade auch unter jüngeren Deutschen kein anderes Bild von Willy Brandt so stark eingeprägt.
Ein Kanzler, der als Emigrant persönlich nicht in die Verbrechen der Nationalsozialisten verstrickt war und der für die deutsche Vergangenheit auf diese Weise die Mitschuld übernahm, beeindruckte viele im In- und Ausland. „Es war ein Moment, in dem uns der Atem stockte. Dieses Bild werde ich mein Leben lang vor Augen haben“, sagte Gerhard Schröder vor zehn Jahren, als er unweit des Ghetto-Denkmals auf dem heutigen Willy-Brandt-Platz in Warschau ein Bronzerelief für seinen Vorvorgänger enthüllte. Nach Überzeugung des früheren Bundespräsidenten und CDU-Politikers Richard von Weizsäcker hat Brandt mit dieser „unerhörten Tat“ die EU-Osterweiterung sogar erst möglich gemacht.
Doch bis sich solche Einsichten durchsetzten, war Brandt wegen seiner spontanen Demutsgeste zu Hause zahlreichen Anfeindungen ausgesetzt – nicht zuletzt aus den Reihen der Union. Beschimpfungen wie „Vaterlandsverräter“ oder Schlimmeres wurden ihm an den Kopf geworfen. Für einen Teil der Bevölkerung wurde er in anonymen Briefen zur regelrechten Hassfigur.
Unmittelbar nach Brandts Kniefall war die Geste noch hoch umstritten. „Durfte Brandt knien?“, fragte das Hamburger Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ auf seinem Titelblatt in der Woche danach. Das Ergebnis einer Umfrage im selben Heft war eindeutig. Nur 41 Prozent der Westdeutschen hielten den Kniefall für angemessen, 48 Prozent fanden ihn übertrieben.
Der heutige SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel hat den früheren Bundeskanzler Brandt am Montag als Wegbereiter der deutschen Einheit gewürdigt. „Es war Willy Brandts Entspannungspolitik – als Berliner Bürgermeister, als Außenminister und schließlich als Kanzler der Ostpolitik –, welche die Blockkonfrontation schrittweise aufgeweicht hat und damit auch den Weg zur deutschen Einheit vorbereitet hat“, sagte Gabriel bei der Veranstaltung „Die Ostverträge – Ein Meilenstein auf dem Weg zu einem freien Europa“.
Dass die deutsche Einheit so friedlich verlaufen sei, habe auch mit dem Kniefall Brandts in Warschau vor 40 Jahren und der darin „zum Ausdruck kommenden Haltung eines neuen Deutschland“ zu tun. Zugleich griff Gabriel die Union wegen ihrer ablehnenden Haltung zur Entspannungspolitik des SPD-Kanzlers an. Es mute heute „seltsam“ an, „dass die CDU damals neben den albanischen Kommunisten die einzige Partei war, die gegen die KSZE-Schlussakte stimmte“, sagte der SPD-Chef.